Weihnachten in Sack und Asche

Äh, wie jetzt? Das Fest der Familie als Bußübung? – Nein, nicht wirklich. Aber auch nicht wie gehabt.

Mein Lehrer Nummer 1, der mich wohl im Denken und Betrachten am stärksten geprägt hat, wies oft und gerne darauf hin: Weihnachten ist in erster Linie ein dramatisches Fest. Mit Märtyrern, finsteren Persönlichkeiten und – mittendrin einem Kind, dessen Zukunft alles andere als rosig ist. Nach bedrückendem Start direkt ins kurze und hart endende Erdenleben.

Natürlich habe ich das „Fest der Feste“, die Weih-Nacht, auch ganz anders wahrgenommen. Meine Eltern haben mich anders erzogen. So, dass ich mich auf Weihnachten freute. Nicht so sehr auf Geschenke-Berge, sondern auf besonders intensive familiäre Nähe.
Es wäre definitiv eine Schnaps-Idee mit eingebautem Mehrfach-Kater, Kindern die im Grunde grausame Weihnachtsgeschichte vorzutragen. Mit erfolgloser Herbergssuche einer hochschwangeren Frau, die mit ihrem Gefährten aus behördlichen Gründen ihr Zuhause verlässt. Für Monate. Nach der Geburt ihres Kindes in einem Stall, der garantiert kein gemütlicher Ort war, schloss sich direkt eine Flucht an. So erzählt es jedenfalls der Text der Frohen Botschaft, des Evangeliums. Kinder in der Region wurden Opfer eines Blutbads, sagt dieselbe Quelle. Und am zweiten Festtag gedenkt die Kirche des ersten namentlich erwähnten Märtyrers, der einige Zeit nach der Hinrichtung des erwachsen gewordenen Christkinds zu Tode gesteinigt wurde. Ganz starker Tobak.

Ich kann mich sehr gut erinnern, wie sehr mich dieser Erzählungs-Zusammenhang zu Weihnachten irritierte, als ich von der Kindheit in das Jugendlichen-Alter wechselt. Am meisten Probleme hatte ich mit der Christmette. Da gab es am Anfang ein Weihnachtslied, zwischendrin weitere. Und dann kam plötzlich das letzte Abendmahl („die Nacht vor Seinem Tod“) mit den letzten Worten an die Jünger. Dies ist mein Leib… Zum Schluss des Gottesdienstes dann wieder ein Weihnachtslied, meist „Stille Nacht, Heiligen Nacht“. Für mich war es noch irritierender, wenn dieses Lied mit gleichem liturgischem Programm morgens gesungen wurde.

Als Jugendlicher war ich eher zurückhaltend, kein Rebell. So ging ich denn mit in die Christmette oder in die Morgenmesse des ersten Weihnachtstages. Im Stimmbruch war an Mitsingen der Lieder sowieso nicht zu denken. Dafür versuchte ich, die gerade skizzierten gedanklichen Nüsse zu knacken. In Stille.

Irgendwann bekam ich das Ganze geistig auf die Reihe. Eigentlich ganz einfach – für einen Erwachsenen. Schließlich blicken wir als Männer und Frauen zurück auf eine eigene längere Entwicklung mit verschiedenen Stadien. Als Baby waren wir süß, empfanden unsere Umwelt aber oft einfach nur zum Schreien. Rabähhh… Dann wurde unser Hirn zum Schwamm, der jeden noch so kleinen Wissens-Fetzen aufsaugt. Dann die Pubertät (die Alien-Phase), erste Liebe, gebrochenes Herz, und so weiter und so fort.

Dazwischen immer wieder Weihnachten. Jedenfalls habe ich es so gehabt und es gibt kein Weihnachten, an das ich schlechte Erinnerungen hätte.

Und dieses Jahr? Wie werde ich daran zurückdenken?

Für uns alle ist Weihnachten 2021 das zweite Fest unter Bedingungen, deren Name nicht genannt werden soll. 😉 Für mich persönlich ist es zusätzlich ein Weihnachten, bei dem jemand fehlt. Ich hoffe, nur dieses eine Mal. Und mit dieser Hoffnung bin ich nicht alleine, im mindestens zweifachen Sinne nicht.
Es gab ein Weihnachtsfest, bei dem ich der Abwesende war. Ich verbrachte jenes Christfest in Odessa. Meine Mitbewohner, das waren neben der Gastfamilie zwei deutsche Studien-Freundinnen, waren allesamt bekennende Atheisten. Und einer der beiden jungen Frauen aus D-Land war deutlich anzumerken, dass sie ein Weihnachten ohne irgendeinen Beigeschmack von Familienfest, genoss. Über alle Maßen. Jedenfalls meinte sie das vorher.

Für die Jüngeren sei erwähnt, dass es damals weder Smartphones noch private Internet-Zugänge gab. Wir hatte nicht einmal ein Festnetztelefon, denn die waren in der früh-postsowjetischen Ukraine echte Mangelware. Unsere Gastgeberfamilie konnte sich so etwas gar nicht leisten.
Wie kommunizierten wir also? – Klare Antwort: Nicht in Echtzeit. Sondern per Brief. Der mit etwas Glück nach ein bis zwei Wochen sein Ziel erreichte.

Und dennoch: Obwohl ich von meinen Eltern und meinem Bruder weit entfernt war, unter Atheisten, die mit Weihnachten überhaupt nichts zu tun haben wollten, feierte ich ein Weihnachtsfest, das ich nie vergessen werde. So schön war es. – Ich habe die Geschichte schon einmal niedergeschrieben. 2011 für meine damalige Herzensdame. Die mir wenig später den Laufpass gab, um es ganz diplomatisch auszudrücken. Aber das hatte nichts mit meiner Weihnachtsgeschichte zu tun. 😉

Das Weihnachten, das ab heute in den nächsten Wochen (ja, es dauert bis Epiphanie!) ansteht, kann nicht so werden wie das von 1994 in Odessa. Unter anderem wegen des Phänomens, für dessen Benennung ich Harry Potter-Romane zitiere. (Lord Voldemort hat, meine ich, auch ein Problem mit der Nase, haha…)
Damals bekam ich ein vollkommen unerwartetes und sogar unerwartbares Weihnachtsfest in einer katholischen Kirche. Morgen werde ich eine solche besuchen, zusammen mit meinem Vater. Das geht aber nur, weil wir uns beide vor Wochen dafür angemeldet haben. Wer es Tage später versuchte, scheiterte. Die Christmette war bereits weit vorher ausgebucht. Es bringt also gar nichts, wenn ich die Odessa-Wanderung zur Kirche nachspiele. Obwohl beide Kirchen dieselbe Namenspatronin haben. Besser wäre es, von einer Matronin zu sprechen, aber das klingt scheußlich.

Damals in der Hafenstadt am Schwarzen Meer gab es kein Buchungssystem, das einem spontanen Kirchgang im Wege stand. Trotzdem war die Christmette 1994 eine ziemlich exklusive Veranstaltung. Also doch, hier die Kurzfassung. Schließlich ist Weihnachten.

Die Gemeinde „Marien Entschlafen“ war damals eine mit drei harmonierenden Flügeln. Sonntags gab es drei Messen: Die erste für polnischstämmige Gläubige, die zweite anderthalb Stunden später in russischer Sprache und dann folgte regelmäßig noch ein Gottesdienst für Ukrainisch-Unierte.
Ich gehörte zur russischsprachigen Gemeinde, die mit Verlaub die bunteste war. Hier feierten Studierende aus ehemaligen „Sozialistischen Bruderländern“ mit, vornehmlich aus Afrika und Asien. Es waren aber auch nicht sozialistisch geprägte Briten, Franzosen, Italiener und ich als (einziger) Deutscher dabei.
Die Christmette, die um Mitternacht gefeiert wurde, stand nicht im Aushang und wurde auch nicht bei den Vermeldungen bekanntgegeben. Pfarrer Ignacy SDB wollte diesen besonderen Gottesdienst ursprünglich mit seinen beiden Mitbrüdern feiern. Im letzten Moment überlegte er es sich anders und sagte den ausländischen Studierenden Bescheid, dass die Kirche zu später Stunde das Licht im Inneren leuchten lasse und dass die Tür dann offen sei.

Ich machte mich früh auf den Fußweg. Zwar war in Odessa am 24. Dezember kein Feiertag, die Busse fuhren normal. Zur Normalität des Odessaer Abendfahrplans gehörte aber ein äußerst dünner Fahrt-Rhythmus.
Als ich an die entscheidende Kreuzung kam, hielt neben mir ein Routen-Taxi. Der Fahrer machte die Beifahrertür auf und frage mich, ob ich mitfahren wollte. Wollte ich nicht. Erstens hatte ich kein Geld dabei, zweitens liebte ich den meditativen Gang zur Kirche und drittens galt es als riskant, abends in ein vermeintliches Routen-Taxi einzusteigen. Also ging ich nach einem höflichen Nein weiter und kam bald auf den Vorplatz der Kirche. Ich sehe sie im Moment vor meinem geistigen Auge. Durch die kleinen Fenster schien Licht brannte. Ich fasste an die Tür und sie ließ sich öffnen.

Im Altarbereich hatten sich außer den drei Salesianern einige junge Leute eingefunden. Eine Pfeifen-Orgel gab es in der Pfarrkirche nicht, ebenso wenig Liederbücher. Die Liturgie war auf das Wesentliche reduziert und es gab viel bewusst gehaltene Stille. Der liturgische Friedensgruß dieser Feier hat sich mir so tief eingeprägt, dass ich ihn jederzeit ganz plastisch und in Farbe in Erinnerung rufen kann. – Wir standen im gestreckten Halbkreis und jede/r sollte die beiden Steh-Nachbarn den Friedensgruß in der eigenen Muttersprache geben. Links neben mir stand ein chinesischer Student. Sein Friedensgruß war eine Verneigung. Die erwiderte ich, sprach dabei aber zusätzlich die deutschen Worte aus.

Nach der Christmette zogen wir alle wieder einzeln in die Nacht hinaus. Ab der Kirchhofspforte trennten sich die Wege, Odessa war schon damals groß und die meisten hatten es nicht so nah wie ich.
Zu Hause erwarteten mich – zu meiner Überraschung! – meine beiden Studienfreundinnen. Sie hatte sich in mein Zimmer gesetzt, obwohl es keineswegs das größte war. Aber nur bei mir gab es Kerzen und so etwas wie einen Adventkranz. Ich meine mich zu erinnern, dass die Kerzen brannten. Auf jeden Fall waren die Augen der beiden erklärten Atheistinnen feucht. Sehr feucht. So wie es meine heute auch werden.

Natürlich sind mir zu Weihnachten Freudentränen am liebsten. Aber dass auf die Tränen der Christnacht 2021 bald Freudentränen folgen werden, darauf darf ich und dürfen wir als Familie fest hoffen. Das kommt dem Geist des Fest-Anlasses viel näher als jeder noch so schöne Tannenbaum, der bei uns dieses Jahr sehr dürftig aussieht. Ein Weihnachtsbaum in Sack und Asche sozusagen.
Aber Weihnachten ist ein Fest des „Noch nicht” – Der Retter der Welt ist geboren, aber noch nicht als Retter in Erscheinung getreten. Noch nicht. Aber Er ist schon da, Gott mit uns, Immanuel. Das meint Weihnachten.

Allen eine gesegnete Weihnachtszeit mit Ihm, der uns liebt! Singt für ihn, wo Ihr ihn wahrnehmt. Wer jetzt singt, hört manchmal mehr als nur sich selbst.

Fenster mit Engelsfigur und geschnitztem Chor

Lüneburg Altstadt 2021