Nur in Umrissen

Meine Lieblingsheilige ist seit Jahrzehnten Bernadette Soubirous. Ich habe jetzt ein noch engeres Verhältnis zu ihr.

Ich war nie in Lourdes und werde mutmaßlich nie hinkommen. Viele Formen der Frömmigkeit, die an einem der wohl bekanntesten katholischen Pilgerorte gelebt werden, waren und sind meiner Glaubensweise fremd. Was nur eine Einordnung ist, keine Wertung.

Ich kann mich sehr, sehr gut an den „ersten Kontakt“ mit Bernadette erinnern. Das war in Attendorn, in einem Schulgottesdienst der Unterstufe. Ich würde heute noch ungefähr den Platz wiederfinden, an dem ich damals zum ersten Mal die Geschichte der „kleinen Seherin“ von Lourdes hörte. Ich war von der ersten Sekunde an fasziniert. Französisch konnte ich kein bisschen, sonntags ging ich nicht zur Kirche – ich wäre der einzige in unserer Familie gewesen – und Lourdes war mir kein Begriff. Mit der heiligen Gottesmutter verband mich gefühlt gar nichts.

Meine Mutter sah das anders. Sie war zwar zu keiner Zeit ihres Lebens fromm im herkömmlichen Sinne. Aber wie ich später nach und nach lernte, hatte sie zur Mutter Gottes ein sehr inniges Verhältnis.
Als unsere Familie vom Sauerland nach Oberbayern gezogen war, fuhr sie gerne alleine ins nahe gelegene Altötting. Nicht dass sie sich da irgendwelchen Kasteiungen oder sonstwie seltsamen Riten unterzogen hätte. Aber es gab Orte, an denen meine Mutter lange schweigend verweilte. Ein einziges Mal war ich mit dabei und glaube aus diesem spontanen gemeinsamen Besuch ein paar Eindrücke mitgenommen zu haben, die mir die Marien-Nähe meiner Mutter heute ein Stück weit greifbar machen.

Meine Mutter ist buchstäblich nicht mehr greifbar. Umarmungen, Blicke, Gesten jeder Art, persönlich gerichtete Worte von ihr – all das gibt es nicht mehr.

Im Fall meiner Mutter weiß ich, was theoretisch noch greifbar ist. Es wird nur noch kurze Zeit vergehen, dann löst sich die Urne auf, die das physisch Gebliebene umgibt. Spätestens dann wird dieses Greifbare Teil des Erdreichs, davon nicht mehr zu unterscheiden, zwei oder drei norddeutsche Regenfälle werden dafür sorgen.

Anders sah und sieht es bei meiner Lieblingsheiligen aus. Ihr Körper wird durch eine regelmäßig erneuerte Wachs-Schicht ansehnlich gehalten, in der Substanz ist er aber auch einfach so erhalten. Übrigens auf natürlichem Wege, diese Konservierung durch die chemische Beschaffenheit des Erdreichs ist auf dem Klosterfriedhof in Nevers normal.

Woher ich das weiß? Weil ich da war und es auf einer Erklärungstafel in der Kirche las, in der der Leichnam aufgebahrt ist. Ich habe am gläsernen Sarg von Bernadette gestanden.

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Bernadette_Soubirous-sarcophagus.jpg:Roock at pl.wikipediaderivative work: Rabanus Flavus, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Mit dem geistigen Bild der Person, das ich mir in erster Linie durch die mehrfache Lektüre von Franz Werfels Roman „Das Lied von Bernadette“ gemacht hatte, verband den Leichnam nichts. Ich hatte das auch nicht erwartet. Mir war schon damals klar: Hier ist nur eine leblose Hülle und ihr Grab. Ein materieller Körper, ja. Aber kein lebendiger Leib.

Als katholischer Christ glaube ich an eine leibliche Auferstehung. Ob Verstorbene vor dieser Auferstehung Geistwesen sind? Eine Frage, die sich mir in den ersten Wochen nach dem Tod meiner Mutter mehrfach stellte.
Selbstverständlich fand ich keine Antwort. Dafür einen Ansatz: Die Frage ist falsch.

Ich unterrichte seit vielen Jahren Menschen und bleibe dabei: Es gibt keine dummen Fragen. – Stimmt. Aber es gibt falsche.
Das sind Fragen, die gestellt werden dürfen, auf die es aber keine Antwort gibt, die ein Mensch (vielleicht nur in der konkreten Situation) verstünde. Beispiel gefällig?

Warum ist meine Mutter / Gefährtin / enge Freundin jetzt tot? Nicht mehr bei mir / uns? Nicht mehr greifbar?

Ich weiß, dass diese Frage mehrmals täglich gestellt wird. Sie ist ganz menschlich, keinesfalls verboten.
Gleichzeitig habe ich selbst mich weitgehend von dieser Frage frei gemacht. Weil die Frage falsch ist. Es kann keine Antwort geben, die ich verstehe. – Jesus antwortet einem durchtrainierten Fragensteller, der sich auf ein gelehrtes Gespräch mit Ihm einlässt, mit einer ziemlich krassen Gegenfrage:

Glaubet ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde?

(Evangelium nach Johannes Kap. 3, Vers 12)

Für mich ins Heute und in meine Situation übersetzt, wenn ich denn so fragte wie der theologisch hoch gebildete Nikodemus (übrigens zum Thema »Neu geboren werden«):
„Kleiner, was glaubst du? Dass ich dir jetzt erkläre, was Zeit und Materie ist? Oder, weil es ein bisschen einfacher ist, was es im Detail mit Licht auf sich hat? (Die naturwissenschaftliche Disziplin der Physik sagt, dass Licht sowohl als Teilchen- wie auch als Wellen-Modell beschreibbar ist.) – Ein Gegenvorschlag, mein Junge: Ich zeige dir was. Pass jetzt gleich einfach mal gut auf.“

Der 2015 verstorbene Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte 1980 im Spiegel-Interview: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Das bezog sich auf Willy Brandt. Was hätte Schmidt erst zu Bernadette gesagt, wäre er ihr vor der Grotte von Massabielle über den Weg gelaufen, wo sie von der vornehmen Dame angesprochen wurde, die nur die Tochter des Lohnarbeiters wahrnahm? Die ihr unter anderem eine Frage stellte, die mit „Würden Sie mir die Ehre erweisen?“ anfing. Das Mädchen musste sich in den folgenden Jahren unzählige Fragen gefallen lassen, die von H. Schmidt hätten kommen können. Was sie sich eigentlich einbilde (sic!)? Ob sie geistesgestört sei? Ob die vornehme Frau gar die hochheilige Gottesmutter sei? (Das hat Bernadette Soubirous nie gesagt, geschweige denn behauptet.)

Sie hat sich mit den Antworten wenig Mühe gemacht, auch als die Visionen noch andauerten. Sie hat einfach nur wahrgenommen, mit der Dame gesprochen und nach ihren Anweisungen gehandelt. Die Quelle, die Bernadette dabei ansatzweise freigelegt hat, gibt es immer noch.

Ich denke nicht, dass ich von einem unsichtbaren Gegenüber angeleitet werde, irgendetwas in die Welt zu bringen, schon gar keinen Wallfahrtsort. Mir genügt es, gelegentlich etwas nicht Beschreibbares wahrzunehmen. Ohne diese Wahrnehmungen willentlich befördern oder behindern zu können, sie passieren einfach. In beschreibende Worte kann ich das Wahrgenommene nicht gut fassen und fühle mich darin einem Menschen ganz nah, der immer wieder Ähnliches erlebt. Als dieser Mensch, der noch sehr jung ist, einmal nach seiner Wahrnehmung der gegenwärtigen Verstorbenen gefragt wurde, sagte er: „Da ist sie.“ Sehr entschieden und ohne eine Spur von Zweifel. Auf „erwachsene“ Nachfrage, wie die Gesehene sich denn zeige, kam: „Da ist ein – Umriss.“

Zugegeben, eine schwer verständliche und vor allem leicht als kindliche Einbildung abzuwertende Antwort. Aber ich glaube, da war nur die zweite Frage falsch. N’est pas, Bernadette?