Danke und lebe

Mein bester Freund war ein Meister in der Kunst des Dankens. Eine Gratulation zu seinem fünften Himmelsgeburtstag.

Der Jesuit Richard Loftus wurde 90 Jahre alt, bevor er sich auf seinen Weg machte. Vorher hatte er mich mehr als ein Vierteljahrhundert auf meinem Weg begleitet. An meine zwei letzten Besuche bei ihm kann ich mich gut erinnern. Ich weiß noch, dass ich leicht erschrak, weil ich geistige Verfallserscheinungen bei ihm zu erkennen meinte. Ich hatte den Verdacht, dass er mich nicht mehr erkannte. Vielleicht gab es wirklich einen Augenblick, in dem er mich nicht wahrnahm. Aber es bedurfte nur eines kurzen Hinweises eines gemeinsamen Bekannten, der mit am Tisch saß, da kannte mich mein Freund wieder. In seiner Mobilität wieder ein Stück stärker eingeschränkt, aber geistig vollkommen wach.
Vater Loftus SJ war nicht gut im Jammern. Besser gesagt: Er schaffte es überhaupt nicht, nicht einmal, wenn es ihm tatsächlich schlecht ging. Lieber machte er sich lustig über mit Wonne wehklagende Figuren, die er sich bestimmt ausdachte, die aber mutmaßlich ihre Vorbilder in seiner langen Lebensgeschichte hatten. Mein Freund gehörte zu den Menschen, die Charaktere nach wenigen gesprochenen Sätzen bis auf den Grund durchschauen. Er setzte das niemals gegen jemanden ein, davon bin ich felsenfest überzeugt.

Also war Richard Loftus ein Mensch ohne Fehler und Schwächen?
Natürlich nicht. Niemand geht als Heiliger aus der Welt, Gericht geht immer. Trotzdem empfand ich keinen Augenblick der Sorge um meinen besten Freund seit dem Moment, als ich von seinem Tod am 21. Februar 2016 erfuhr. Selbstverständlich vermisse ich ihn. Seine Stimme, sein Lächeln und sein Lachen, seinen Humor und genau so seinen ernsten Rat, den er mir eben auch manchmal unmissverständlich auf’s Brot strich. Aber ein anderes Bild steht mir zuverlässig als erstes vor dem geistigen Auge, wenn ich daran denke, dass er nicht mehr da ist.

Die letzten Jahre seines biologischen Daseins verbrachte Vater Loftus, der von Beruf Biologie-Dozent war, im kirchlichen Altenheim von Unterhaching. Wenn ich ihn dort besuchte, ging ich als erstes zu seinem Zimmer und dann zusammen mit ihm zur Cafeteria. Dabei kamen wir an der Krankenhauskapelle vorbei – ihrer Größe und Ausstattung nach locker als Pfarrkirche durchgehend. Erstaunlich selten, so scheint es mir im Rückblick, gingen wir für ein paar Momente in den Kirchenraum. Wenn ich das vorschlug, lehnte der Jesuiten-Pater nie ab, aber lieber war es ihm, glaube ich, wenn der Vorschlag von ihm selber kam. Und das war eben nicht jedesmal der Fall. So kann ich mich an eine Stippvisite in der Kapelle besonders gut erinnern. Diese Einkehr war eine besondere. Unter anderem durch die Erinnerungen, die sich an ihr wie eine Perlenkette festmachen.

Während ich schreibe, kommt mir eine von diesen Gedächtnis-Perlen in Erinnerung.
Auf dem Wegabschnitt zwischen Vater Loftus‘ Zimmer und der ersten Biegung kamen wir zwangsläufig an einem Seitengang vorbei. Mindestens einmal sagte er mir, dass dieser Gang direkt zur Sakristei der Krankenhauskapelle führe, weswegen er meist da durch zum Gottesdienst gehe. Vater Loftus verstand es, aus alltäglichen Vollzügen in einen Dialog zu wechseln – mit dem Herrn. Und wenn er mit Ihm sprach, veränderte sich sein augenblicklich sein Gesicht. Dafür brauchte mein wichtigster Lehrer keine Kerzen, keine Messgewänder, keine Musik und keine Kapelle. Jeder Rahmen, auf den er sich mit anderen Menschen einließ, konnte zum zeitweiligen Gottesdienst werden. Nicht notwendigerweise zu einer Feier, einfach nur zum Sich-Sehen mit dem buchstäblich über alles geliebten Herrn. Bei einer Gelegenheit sagte Vater Loftus einmal: „Herr, wir sehen Dich an und Du siehst uns an.“ Das war alles und ich saß dabei auf dem Sofa im Regensburger Wohnzimmer der Jesuiten-Kommunität. Kein Tabernakel weit und breit, ein einfacher Beichtschal lag im Schrank bei anderen kirchlichen Gegenständen und weltlichen Trinkgläsern. Für mich ist dieser Moment nach wie vor ein tief wahrgenommener und prägender Gottesdienst, umrahmt von Alltäglichem, das ich bereits Minuten später vergaß. Und Jahre später ergab sich in der Krankenhauskapelle ein ähnlich einprägsamer Augenblick, diesmal mit Tabernakel und Altar, gleichwohl ohne gesprochene Worte oder irgendeinen Ritus. Was wieder da war: „Herr, wir sehen Dich an und Du siehst uns an.“ – Und vorher hatte ich an Vater Loftus‘ Augen gesehen, dass er diese Gegenwart als Dauerzustand von ganzem Herzen suchte. Das war Jahre vor seinem Tod und Vater Loftus gehörte bis zum Schluss unseres gemeinsamen Weges zu den Menschen mit der größtmöglichen Lebensfreude. Zu seinem Humor hätte es gepasst, wenn er dazu sagte: „Und genau deswegen will ich für immer bei Ihm sein.“

Das habe ich ihn nie sagen hören. Aber am Vorabend seines diesjährigen Himmelsgeburtstags hörte ich einen Dialog, der in diese Richtung ging und der Vater Loftus mit Sicherheit gefallen hätte.

Ein altgedientes Gemeindeglied meiner Samstagabend-Orgeldienstgemeinde hatte gerade vom Tod eines Paters erfahren, den sie offensichtlich sehr gut kannte. Jedem halbwegs Gleichaltrigen, der corona-maskiert in die kleine Kirche kam, überbrachte sie als erstes die traurige Nachricht.
Als der Pfarrer kam, sparte sie sich die Nachricht als solche, fragte aber rhetorisch: „Ist das nicht traurig, Herr Pfarrer, dass Pater B. gestorben ist?“
Der im Vergleich zu der Fragenden deutlich jüngere Pfarrer gab zurück: „Warum? Was kann uns denn Besseres passieren, als zum Herrn zu gehen und mit Ihm zu leben?“
Vater Loftus hätte dem sofort energisch zugestimmt und den folgenden Dialogteil genossen.
„Ja, Herr Pfarrer, das stimmt. Aber warum will Er mich dann nicht haben?“ – „Keine Sorge, Sie nimmt Er auch noch.“ Mein Freund hätte sich köstlich amüsiert. 🙂 Ich sehe sein Grinsen direkt vor mir.
Bräuchte ich eine Gedächtnis-Hilfe – noch brauche ich keine! – um mir das Gesicht zum freundlichen Loftus-Grinsen vorzustellen, fände ich sie jederzeit im Flur meiner Wohnung. Oben am Anfang dieses Blog-Eintrags ist das Foto zu sehen, das ich sofort an seiner heutigen Stelle anbrachte, als ich in Neukölln einzog. Nicht eigentlich zur Erinnerung, ich traf Vater Loftus ja noch oft. Ich kam etwa alle anderthalb Monate beruflich nach München und fuhr gerne mit der S-Bahn zu ihm nach Unterhaching. Das Foto hängt aus einem bestimmten Grund an einer Vitrine. Darin stehen ausgewählte Trinkgläser und andere Dinge für besondere Anlässe. Gewissermaßen eine Erinnerung an den Schrank im Wohnzimmer der Regensburger Jesuiten-Kommunität. Ohne Beichtschal, versteht sich.
Heute, zum Himmelsgeburtstag von Vater Richard Loftus SJ, nahm ich mein schönstes Glas aus ebendieser Vitrine und – suchte „verzweifelt“ nach einer würdigen Füllung. In Anlehnung an die Regensburger Treffen hätte Sherry oder Portwein in’s Glas gehört, denn diese Auswahl bot der Jesuit seiner wöchentlichen studentischen Gesprächsrunde immer zum Abschluss an. Und dazu wurden die letzten Reste des obligatorischen Studentenfutters (sic!) vertilgt.
Stude…, äh, Studierendenfutter hätte ich gemischt bekommen, aber Port und Sherry waren beide Fehlanzeige. Glücklicherweise fand sich noch ein Schluck Marsala – wohlgemerkt aus Regensburg! So konnte ich doch noch auf das Wohl meines besten Freundes anstoßen und zwar mit seinen Worten:

„Auf Den, Der uns liebt!“

Ich ergänzte: Und auf Sie, Vater Loftus, der schon bei Ihm ist und für immer bleiben darf.

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