Pizza Argentina

Man sagt mir seit Jahrzehnten nach, dass meine Anspielungen oft das Niveau von Zeit-Rätseln erreichen. Na gut, heute geht’s um die Kuh.

Wir schreiben das Jahr 2010. Also so ungefähr jedenfalls. Da war ich Dozent an der Journalistenakademie Dr. Hooffacker in München, etliche Kilo schwerer als heute und regelmäßig mittags zu Gast in der Osteria La Luna (damals Luna Rossa). Das eine hing übrigens kaum mit dem anderen zusammen. Die wahrhaft authentische Cuccina Italiana des Hauses setzte schon damals konsequent auf Klasse statt Masse. Kaum irgendwo sonst habe ich ähnlich gute Fisch- und Wild-Gerichte genossen.

Von diesen Qualitäten war nicht nur ich überzeugt. Il Signore, wie ich den Chef nannte, hatte handverlesene Stammgäste und legte Wert auf den familiären Kontakt zu ihnen. Öfters sah ich einen älteren Herrn, meistens an einem bestimmten Tisch in der Nähe der Theke, wo der vorzügliche Caffè (Espresso) her kam.
Mit diesem Gast sprach Il Signore meistens Deutsch. Es machte diesem aber offenkundig nichts aus, wenn der Chef in’s Italienische wechselte. Irgendwann erfuhr ich, dass der Stammgast Argentinier war, was jedenfalls ich ihm nicht anhören konnte.

Eines Tages war der argentinische señor etwas unschlüssig, was er essen sollte. Der Gastwirt wollte ihm helfen und schlug mit mächtig Elan in der Stimme vor: „Pizza Argentina!“ – Der Gast sah Il Signore mit unbewegter Miene an und erwiderte: „Pizza con una vacca?“ Zu Deutsch: Pizza mit einer Kuh (darauf)? Ich konnte nicht mehr an mich halten und prustete los. Gut, dass noch kein Teller vor mir stand.

So habe ich es in München gemacht. Vor gut zehn Jahren, als die Welt zwar alles andere als in Ordnung war, aber Begriffe wie „FFP 2“ und „Lockdown“ am ehesten im Vokabular von Computerfritzen (wie mir) gesucht worden wären. Und wenigstens Buzz-Word No. 1, also das mit FF am Anfang, hätte mindestens ich nicht gekannt. Gastronomen vermutlich ebenso wenig.

In Vorbereitung auf diesen Artikel habe ich nachgesehen, ob es die Osteria in München noch gibt. Und auch wenn ich in absehbarer Zeit nicht vorbeikommen kann, freut es mich doch unbändig, dass die Pandemie den (roten) Mond nicht vom Münchener Himmel geholt hat. Der Name hat sich lange vorher geändert, einhergehend mit einem neuen Look. Doch unter Beibehaltung des Charakters, da bin ich absolut sicher.

Ja, ich hätte tatsächlich Lust, nach Monaco di Baviera zu reisen. Nicht zu lange, denn nach spätestens einer Woche wäre das Heimweh nach Spree-Athen nicht mehr zu ertragen. – Ja, Berlin hat sich durch die Pandemie verändert. Nicht zum Guten. Aber wenn die Bundeshauptstadt eines kann, ist es… nein, nicht einen Flughafen neu oder eine Kathedrale um zu bauen. (Oh, St. Hedwig, wie ich Dich vermisse! Heute besonders, denn es ist St. Hedwigs-Tag.) Sich wandeln, das kann Berlin. Wahrscheinlich wird das Berliner Leben nicht wieder so wie vor März 2020. Aber ich bin davon überzeugt: #Berlin wird wieder #thePlaceToBe. Merkt euch meine Worte.

Und München? Ich habe knapp 13 Jahre dort verbracht. Nicht schlecht für eine Stadt, in die ich zu Studienzeiten niiiiiieeemals ziehen wollte. Und wirklich zu Hause gefühlt habe ich mich tatsächlich nie. Dass es Orte in M. gab, an denen ich gerne war, war mein Glück. Und diese Orte sind es, bei denen ich gerne vorbeischauen würde. Es gibt außerdem ein paar Menschen, für die das gleiche gilt. Was wären die meisten schönen Orte ohne „ihre“ Menschen?

Kuhweiden. Die gehen auch ohne Menschen. Dem Vieh ist es mutmaßlich sogar lieber, wenn sie diese komischen Zweibeiner nicht ständig bei sich sehen oder gar am Leibe fühlen. Mir steht gelegentlich ein Bild aus einem Doku-Film vor dem geistigen Auge, bei dem ein Rind auf für unsere Breiten untypische Weise „angezapft“ wird. Nix da „o’zapft is!“
In diesem Film halten einige kräftige Männer ein erwachsenes Rind fest, während ein alter Mann einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens legt. Kurz hinter der Pfeilspitze ist eine kleine Metallplatte. Die sorgt dafür, dass der Pfeil nicht zu tief geht. Er soll die Halsschlagader nur anritzen, aus der dann Blut für ein Kochgericht sickert. Nach der Zapfaktion kommt ein vom Schützen gekauter Pfropfen in die Halswunde und das Rind darf seiner Wege gehen. Bis zur nächsten Zapf-Aktion. – Der Blick des Rinds in Richtung Pfeilschütze bleibt mir unvergesslich. Das war nicht das erste Mal…

Die SARS Cov2-Pandemie bescherte mir einige erste Male, auf die ich rückblickend gerne verzichtet hätte. Der erste Abstrich für einen PCR-Test. Der erste Schnelltest durch die Nase im oberen Rachen („…Ist unangenehmer, geht aber ganz schnell vorbei…“), zweimal Anstehen für die J&J-Impfung mit insgesamt 9 Stunden Standzeit, die ersten Male für verschiedene Maskentypen, das erste Mal, den Beinahe-Angriff eines maskenlosen Krawall-Bruders gegen einen jungen Mann zu beobachten, der ihm freundlich eine Maske anbot. Und so weiter.
Nach dem Wissen vom Mai durfte ich davon ausgehen, dass die erste CoViD-19-Impfung unter Umständen die vorerst letzte bleiben würde. Ich hatte mich nicht auf sie eingelassen, weil ich so auf Nadelstiche im Oberarm stünde. Auch dachte ich nicht, dass diese Immunisierung mich von allen Risiken sicher befreite. Nö, ich wollte es dem Virus nur so schwer wie möglich machen, mich als Brücke zu benutzen. Viele der Menschen, mit denen ich täglich zu tun habe, haben eine Acht vorne beim Alter, manche sogar eine Neun. Es gibt auch jüngere Semester in meinem Freundes- und Bekanntenkreis, bei denen dafür andere Risiko-Faktoren Beachtung verlangen. Ich will mir nicht vorstellen, was wäre, wenn ich auch nur den Verdacht hätte, jemand anderen vielleicht auf die Intensivstation oder von der aus in die falsche Richtung gebracht zu haben.

Zugleich verteidige ich alle, die für sich anders entscheiden. Ich kenne Menschen persönlich, die fest glauben, dass bei der Impfung Chips eingepflanzt werden. Und die beratungsresistent sind. Ich – Moment, Bill, ich kann gerade nicht. Lass uns später weiter echsen. Oder EXEn, wa? 😉 – Was ich sagen wollte, mir ist es lieber, wenn jemand durchdachte Gründe gegen eine Immunisierung für sich ins Feld führt. Es gibt gute Gründe. Und schlechte. Dafür wie dagegen.

Was mag der medizinische Mainstream gedacht haben, als Anno 1796 der englische Medicus Edward Jenner auf die Idee kam, Eiter (!) von der Hand einer Melkerin in den Arm eines achtjährigen Jungen zu bringen? Den Kleinen infizierte der Medicus sechs Wochen später absichtlich mit Pocken-Sekret, um zu sehen, ob sich Pocken bei dem Kind zeigten. Taten sie nicht.

Tierversuch und Menschenversuch zusammen, pfui. Aber im 18. Jahrhundert war mancher Wissensdurstiger eben so drauf. Vom Immunsystem und von der bloßen Existenz der winzigen Viren wusste man noch nichts. Von Menschenrechten, äh, im Grunde schon. War ja die Epoche der Aufklärung. Aber darunter verstanden die religiösen, wissenschaftlichen und politischen Entscheider (fast alles Männer) Unterschiedliches.

In der Impfwarteschlange

Please hold the line. Impfaktion im Alexa-Shopping-Center 2021

Da sind wir heute weiter. Es gibt einen breiten Konsens, der mit abweichenden Meinungen und Haltungen klarkommt. So sehe ich es jedenfalls. („…Ja, Bill, ich bin gleich fertig, echs, echs…“) Herdentier bleibt Herdentier, das haben wir Menschen mit den Rindeviechern gemeinsam. Denen wir eben unter anderem die Erkenntnis verdanken, dass irrwitzig erscheinende Aktionen manchmal tatsächlich zum Erfolg führen. Können. Oder auch zum krassen Gegenteil. No risk, no progress. Nur dass wir das heute mit mehr Respekt (bedeutet wörtlich Rücksicht) machen sollten.

Im Mittelalter gab es kaum Respekt gegenüber Nicht-Adeligen, dafür die Diskussion, wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können. Ich bin fasziniert von vielem, was im europäischen Mittelalter debattiert wurde. Aber hier schlage ich ein Themen-Update vor: Wie viele Kühe passen auf eine Pizza? Länderspiel Argentinien – Italien. Und wie viele Impfwillige passen in eine Berliner Last Minute-Warteschlange?
Beim zweiten Wettbewerb habe ich einen heißen Tip: etwa 20. Zu so vielen waren wir nämlich, als wir die gestrige Freitags-Schlussrunde der Impfaktion im Alexa einläuteten. Mit Alexa meine ich die Mall in Berlin, keine Spracherkennung. Hey, Jeff, get off the line! Ich stehe hier noch etwas an und dann rede ich erst mit Bill, dem EXE-nmeister. Echs-echs… Over, out und Muuuh!

5 Gedanken zu „Pizza Argentina

    1. Das war sie auch, wird sie nächstes Mal wieder – und das 100% primal! (Mark Sisson würde herzhaft reinbeißen und auch von dem Trierer Rotwein kosten. 😉 )

  1. Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart, wie ein Buch geschrieben. Heute kann man auch viele Begebenheiten in Bayern positiv sehen. Aber ich bin froh im Norden zu sein. Super Blog-Artikel!

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