Im Juli

Blick auf den abendlichen Landwehrkanal, BerlinSo heißt einer meiner ewigen Lieblingsfilme. Traditionell sehe ich ihn mindestens einmal pro Jahr an. Kommende  Woche werde ich besonderen Wert darauf legen.

Fatih Akin gehört für mich zu den besten in Deutschland wirkenden Filmemachern. Zum ersten Mal sah ich sein Roadmovie „Im Juli“ (2000) in einem kleinen Schwabinger Programmkino. Ich lebte noch nicht lange an der Isar und nachdem ich den Film gesehen hatte, bekam ich prompt Fernweh. Nach meinem Verständnis geht es in diesem Film nicht so sehr um die Vorzüge und Macken europäischer Regionen, Städte oder Fernstraßen zu Land und Wasser. Für mich dreht sich in dieser modernen Odyssee-Variation alles um die unberechenbaren Wendungen im menschlichen Dasein sowie um die verborgenen Kräfte und Anlagen. Sie stellen einen urplötzlich vor Entscheidungen, Schwellen und Fragen, vor denen mensch Angst haben mag, die aber in der direkten Konfrontation einen Gutteil ihres Schreckens verlieren. Kurzum: Es geht um lebendige Herausforderungen, ob man nun seiner Traumfrau quer durch Osteuropa folgt oder nach zehn Jahren Aufenthalt in einer Stadt den 500-Kilometer-Umzug plant. Am Beginn des letzteren Abenteuers stehe ich gerade. Eine Neuinszenierung des klassischen Odysseus-Stoffes wird das hoffentlich nicht werden.

Zur Erinnerung: Odysseus war laut Dichter Homér (nicht Hómer Simpson 😉 ) König von Ithaka. Als die hellenische Flotte nach Troja fuhr, um die geraubte schöne Helena wieder einzusammeln, wurde der als listig bekannte Fürst zur Mitreise verpflichtet. Nach zehn Jahren Belagerung kam Odysseus auf den Dreh mit dem Holzpferd, dessen Füllung den Trojanern übel bekam. Zur Strafe für seinen Beitrag zur Zerstörung des stolzen Troja ließ Meeresgott Poseidon den heimstrebenden König zehn weitere Jahre lang über die Ägäis und die angrenzenden Teile des Mittelmeeres irren. Nach insgesamt 20 Jahren kam Odysseus wieder im heimatlichen Reich an, gab sich als Bettler aus und räumte in seinem Palast ziemlich derb mit dem eisernen Bogen auf.

Krieg, zürnende Wassergottheiten und pfeilregnende Reinigungsmaßnahmen kommen in Fatih Akins Film nicht vor. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mit derlei Unbill ebenfalls erspart bleiben wird, wenn ich die Umzugs-Segel hisse. Ein König bin ich nicht, mein Listenreichtum hält sich im bescheidenen Rahmen. An beidem hat der primale Lebenswandel nichts verändert.
An anderer Stelle hat die von Mark Sisson inspirierte Umstellung sehr viel dazu beigetragen, dass ich den Wechsel meines Wohn- und Arbeitssitzes nach gut zehn Jahren München einleite. Im Herbst 2011 flackerten die Signallichter zum ersten Mal auf, erloschen aber sehr schnell wieder. Ein Mensch, auf den ich nach wie vor große Stücke halte, trug zu diesem bewussten Aufgeben von Wechselplänen bei. Diese Verbindung riss auf den Tag genau heute vor acht Monaten ab, am 29. November letzten Jahres. Die darauf folgenden Wochen war ich mit der Versorgung von seelischen Wunden beschäftigt, die mir wie die Folgen ithakischer Pfeilspitzen vorkamen, nur dass sie kein zorniger Held auf mich abgeschossen hatte. Statt Blutverlust war bei mir der Zugewinn von Kummerspeck zu beobachten. Binnen zweier Wochen stieg mein Körpergewicht um fast fünf Kilo an. Ich habe das niemandem vorzuwerfen außer mir selbst, aber es war eine Belastung im mindestens doppelten Sinne.

80 Prozent der körperlichen Verfassung wird über die Ernährung gesteuert – ist Mark Sisson (www.marksdailyapple.com) überzeugt. Für die restlichen 20 Hunderstel sind Faktoren wie Erbanlagen, Lebensweise inklusive Schlafgewohnheiten, tägliche Bewegung und sportliche Aktivität verantwortlich. Ich möchte noch emotionale Verfassung hinzufügen. Es zeigt sich immer wieder, dass frisch Verliebte schlanker und agiler werden – bevor sie gelegentlich in ein schwereres Fahrwasser geraten und dann gemeinsam behäbiger werden. Ich kenne eine Menge Beispiele. Die Veränderung der körperlichen Verfasstheit fällt am schnellsten ins Auge, ist aber nicht das Schlimmste. „Einer mag überwältigt werden, aber zwei mögen widerstehen” heißt es im biblischen Buch Kohelet (Koh 4,12). Das ist der gute Ausgang. Der schlechte, bei dem beide Beteiligten in die selbe Grube von Phlegma und Mutlosigkeit fallen, tritt aber ebenso auf. Such is life, sagt der Engländer, zu Deutsch: So ist das Leben.

Eine Mietvertrags-Kündigung auf dem Fußweg zum PostamtDie primale also ursprungsverhaftete Lebensweise bewahrt niemanden davor, gelegentlich zu stolpern. Die Vorfahren des Sisson-Maskottchens Grok waren hart im Nehmen. Knochenfunde zeigen, dass sich Neandertaler von für uns unvorstellbar schmerzhaften Knochenbrüchen nicht sonderlich beeindrucken beziehungsweise aufhalten ließen. Ob die Menschen vor 10.000 Jahren noch genau so hart gegen sich selbst waren? Oder hätten die etwa 16.000 Jahre zuvor ausgestorbenen Neandertaler ihren Ur-Ur-Ur-[…]-Ur-Enkel Grok als erbärmliches Weichei angesehen?

Fitness-Trainer und Autor Mark Sisson geht es nicht darum, seine Leser und Schützlinge zu stahlharten Keulenschwingern zu machen. Ich vermute, er träumt auch nicht von einer steinzeitlich bewaffneten Armee, die Weizenfelder abbrennt und Zuckerproduzenten im weiß-braunen Kristallberg karamellisiert. Wir sind doch keine Barbaren, uggah!

Im eingangs erwähnten Film findet ein ebenso kultiviert sanftmütiger wie leider auch hilfloser Lehrer seine wirkliche Liebe genau dort, wo er sie gesucht hat – nur ist es eine ganz andere Frau als die im Wortsinn leidenschaftlich erwartete. Die Szene, in der Moritz Bleibtreu den Prozess und den Augenblick der Erkenntnis spielt, gehört für mich zu den Höhepunkten des neueren deutschen Films. Danke, Fatih Akin und Crew! Mein Leben ist kein Film und Berlin ist nicht Istanbul. (Für absolute Insider: Lemberg ist nicht Prag. – Das verstehen wirklich nur zwei Leute, von denen ich nicht glaube, dass sie diesen Blog lesen. Aber wer weiß das schon? Unverhofft kommt oft.) Auch folge ich nicht einer Traumfrau mit einem Vornamen, der übersetzt ‚Engel‘ bedeutet. Vielleicht habe ich das Glück, Idil Üner in Berlin einmal auf der Bühne zu sehen. An der Spree gelandet, werde ich die Theaterszene garantiert intensiv erkunden.

Bis dahin aber gibt es noch eine Menge zu tun und zu planen. Das Entscheidende beim primalen Planen ist, dass es zügige Reaktionen und Freude an der Improvisation einschließt. Beides zu schulen, das ist Teil des primalen Umstellungsprozesses. Der ist mit diesem 150. Beitrag zum Lautwert.de-Blog noch nicht beendet, das wird er nicht so bald. Und ganz sicher nicht in diesem Juli.

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