In diesem Artikel geht es um Fleisch. Allerdings um kein essbares, es sei denn, zu meinen Lesern zählen auch Kannibalen.
Denn heute schreibe ich über Menschenfleisch, über Sitzfleisch. Von dem es übrigens nach meiner eigenen Erfahrung zwei Arten gibt.
Die eine Sorte ist nicht weiter spektakulär. Jeder gesunde Mensch hat Muskelstränge, die sich über sein Gesäß ziehen. Ob diese Körperpartie mehr oder weniger knackig erscheint, hat vielleicht ästhetische Bedeutung, sonst aber keine nennenswerte.
Anders verhält es sich mit dem geistigen Sitzfleisch. Ich habe lange Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, einen ganzen Berg davon gehortet und war stolz darauf. Ich glaubte allen Ernstes, das mache mich einem großen Vorbild ähnlicher. Ich lag vollkommen daneben!
Den wahrscheinlich größten Theologen des europäischen Mittelalters, Thomas von Aquin, nannten seine Kommilitonen bei einem wenig schmeichelnden Namen. Sie riefen ihn den stummen Ochsen. Ich konnte und kann mir den jungen Dominikaner-Mönch vorstellen, wie er mit absoluter Konzentration auf die Worte seines Lehrers Albert hört und keine Fragen stellt. Er macht sich seine Gedanken und einige Jahre später sollten diese Gedanken schriftlichen Ausdruck finden, um dann über Jahrhunderte weiter zu wirken. Der damals in Köln wirkende Albert der Große (Albertus Magnus) wusste um das reifende Genie seines ebenso wortkargen wie voluminösen Studenten aus Italien. „Dieser stumme Ochse wird einmal brüllen, dass die ganze Welt davon widerhallt!“ soll der Professor über Thomas gesagt haben.
Der Autor der Summa Theologiae und anderer theologischer Buch-Schwergewichte war kein Kostverächter. Dass er als junger Mönch nicht viel sprach, war sicher dafür verantwortlich, dass ihn seine Mitbrüder als stumm verspotteten. Die Bezeichnung als Ochse dürfte sich dem Umstand verdankt haben, dass Thomas ziemlich dick war. Von sportlichen Übungen hielt der Meister der Kontemplation wohl gar nichts. Ein Kreuzgang eignet sich auch nicht wirklich als Trainingsraum.
Ich stand einmal kurz davor, dass ich mich um den Eintritt in den Dominikaner-Orden beworben hätte. Der damalige Postulatsmeister der norddeutschen Provinz legte mir dar, dass eine solche Entscheidung einen jahrelangen Reifeprozess voraussetze, den er bei mir nicht eindeutig erkennen könne. Obwohl mich die dominikanische Theologie nach wie vor fasziniert, wäre aus mir vermutlich kein guter Ordensmann geworden. Und ein zweiter Thomas von Aquin ganz sicher nicht.
Rein äußerlich entwickelte ich durchaus eine gewisse Ähnlichkeit. Die Rundungen wurden ganzheitlich stärker und den Rückzug in meine eigene Gedankenwelt beherrschte ich meisterhaft. Die Konzentration ging mit Bewegungsarmut einher – und genau hier wurde es ungesund. Das war das geistige Sitzfleisch, von dem ich anfangs sprach. Und das ist alles andere als thomistisch.
Thomas von Aquin war viel unterwegs. Für einen Prediger-Mönch gehörte sich das so. Seine Bücher diktierte er, wobei er selbst wohl stand oder ging. Wenn Primal Blueprint-Autor Mark Sisson, dessen Aussagen und Erscheinungsbild nichts mit dem mittelalterlichen Denker zu tun haben, mit der These Recht hat, dass der Körperbau zu rund 80 % von der Ernährung abhänge und nicht etwa von sportlicher Betätigung, dann lässt das Rückschlüsse auf Thomas Speiseplan zu. Er kam aus einer italienischen Adels-Familie, war aber in den Bettelorden des Heiligen Dominicus eingetreten. Für Thomas Familie war das in etwa so, als ob er eine Frau vom fahrenden Volk hätte heiraten wollen, bemerkte einmal der Thomas-Kenner und neuzeitliche Philosoph Josef Pieper (1904 – 1997).
Italienische Pasta war im 13. Jahrhundert noch nicht erfunden. Thomas muss sich also von anderen körperverformenden Mitteln ernährt haben. Ob er als Bettelbruder viel Auswahl hatte? Außerhalb wie innerhalb der Fastenzeiten (damals gab es mehrere davon!) wohl kaum. Anders als die Benediktiner-Klöster verfügten die Dominikaner- und Franziskaner-Konvente über keine Ländereien oder eigene Landwirtschaft. Das ist heute immer noch so. Dominikaner versorgen sich nicht selbst, sie nehmen an, was andere ihnen schenken. Was die Brüder für ihre Tätigkeiten außerhalb des Klosters verdienen, bringen sie für die Hausgemeinschaft ein. Aber ich habe selbst erfahren, dass es trotzdem zeitweilige Engpässe geben kann. Die Auswahl ist dann stark eingeschränkt. Und ich wage zu bezweifeln, dass die mttelalterlichen Spender sich an primalen Maßstäben orientierten. Die wahrhaft primale also ursrüngliche Epoche endete laut Aussage von Frühhistorikern vor 8.000 bis 10.000 Jahren. Mit Ackerbau und Viehzucht war die urzeitlich schlanke Herrlichkeit vorbei.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Heilige Thomas v. Aquin wegen meiner primalen Lebensweise höchstens mit den Schultern gezuckt hätte. Es gibt Wichtigeres als Körpergewicht und Fettgewebe-Muskel-Verhältnisse. Wer über Geistesgaben wie der mittelalterliche Theologe verfügt, der muss sich um Wohlbefinden, Energie und Lebensfreude keine Sorgen machen. Er hat ganz andere. Dafür aber auch das feste Vertrauen (Glauben genannt) in einen Helfer, für den es keine Einschränkungen und Begrenzungen gibt.
Unsereins kann sich schulen, regalmeterweise Bücher lesen, nachdenken, diskutieren und Gedanken niederschreiben. Ich durfte lernen, dass diese Übungen viel besser und leichter gelingen, wenn mensch sich häufiger bewegt und beschwerdenträchtige Nahrungsmittel meidet. Zum Genie wird durch primale Ernährung und Lebensweise niemand. Aber der gemäßigte Paleo-Stil sorgt auch nicht für einen Rückfall ins geistesgeschichtliche Keulenschwingertum. Bewusstes (und womöglich dankbares) Wahrnehmen lässt still werden. Eine gute Ausgangsbasis für Kontemplation nach Art des nur vermeintlich stummen Thomas.