Mit wachen Sinnen

Ein immer hungriger TaschenwolfNicht einmal auf Haustiere kann man sich verlassen, wenn es um ursprüngliche Ernährung geht. Siehe Monsieur L.

Natürlich ruft ihn sein Herrchen nicht Monsieur. Das bedeutet schließlich „mein Herr“. L. ist aber nur der Hund im Hause. Und immer hungrig.

Er brauchte ein bisschen Zeit, bevor er mich als Freund des Rudels anerkannte. Seitdem und solange ich in seinem Revier zu Gast bin, lerne ich täglich neue Seiten des Taschenwolfes kennen. So bezeichnet ihn sein menschlicher Alpha-Rüde gerne.

Ja, er kann sich wie ein echtes wildes Raubtier gebärden, dieser Ur-Ur-…-Ur-Enkel Isegrims. Ich bin mir zwar leider sicher, dass L. gegen einen echten Wolf keine Chance hätte, wenn beide Hunger litten. Aber dafür haben sich die zahmen Nachfahren des eleganten Jägers optimal angepasst. Wo die Züchter nicht alle ererbten Qualitäten verdorben haben, finden sich immer noch ein paar wölfische Eigenschaften.

Etwa die unglaublich feine Nase. Monsieur L. nimmt quer durch die ganze Wohnung, in der er mit seinem Herren residiert, wahr, wenn irgendetwas aus dem Kühlschrank oder Vorrat gezogen wird, was er lieber frisst als das liebevoll angerichtete Hundefutter. Hunde jeder Größe lieben Fleisch. Und wie jeder gut erzogene Haushund beherrscht auch le Monsieur L. die hohe Kunst, entsprechende Brocken aus unnötiger Sättigungsbeilage heraus zu knabbern. Brot verschmäht das Tier grundsätzlich. Gut so! Mark Sisson und wir, seine Anhänger, spenden spontan unseren Beifall.

Aber was ist das?! Monsieur L. trinkt Milch! Er mag Süßes und schreckt nicht einmal vor scharf gewürzten Zuckerbomben (auch Ketchup genannt) zurück. Wer sich primal, das heißt: ursprünglich ernährt, macht auf jeden Fall einen großen Bogen um alles, was Kohlenhydrate in derart hoher Konzentration enthält. Von Glutamat und anderen Geschmacksverstärkern ganz zu schweigen. Und Milch? Die habe ich jahrzehntelang genossen, in dem festen aber leider irrigen Glauben, mir damit gesundheitlich einen Gefallen zu tun. In Maßen, so der Fitness-Coach Mark Sisson aus Kalifornien, können fermentierte Milchprodukte durchaus sinnvolle Nahrungsergänzungsmittel sein. Viele fettreiche Käsesorten enthalten nicht einmal mehr Milchzucker (Laktose), gegen die immer mehr Europäer eine Allergie entwickeln.Unter einer Laktose-Unverträglichkeit habe ich nie gelitten. Aber erst nachdem ich meinen täglichen Milchkonsum einstellte, nahm die Waagen-Nadel richtig Fahrt gegen den Uhrzeigersinn auf. Daraus zog ich gewisse Schlüsse, die vielleicht nur für wenige Leute gelten, aber auf jeden Fall für mich. „Es gibt bei der primalen Ernährung kein Richtig und Falsch“ sagte Mark Sisson beim letzten Treffen der Primal Blueprint-Anhänger im kalifornischen Malibu. „Es gibt nur immer wieder Wahlentscheidungen.“ Wenn die Wahl gegen eine echte Lieblingsspeise ausfällt, dann ist das schmerzhaft. Aber die primale Lebensweise kennt für jedes Opfer mindestens einen Ausgleich. Und anders als mich viele missverstehen, ist primaler Alltag nicht durch die Mahlzeiten definiert. Über die findet man nur am leichtesten den Einstieg in die Materie. Aus diesem Grund thematisiere ich sie so oft in meinem Blog.

Für Monsieur L., der noch nie von Mark Sisson gehört, gelesen oder ein Stück türkische Knoblauchwurst bekommen hat, wie heute von mir – für diesen Hund zählt tatsächlich nur das eine. Nach dem Fressen kommt bei ihm keine Moral. Woher soll ein Taschenwolf Brecht kennen? Vorgestern konnte er seinen Horizont immerhin erweitern. Bei einem Streifzug durch Charlottenburg entdeckte ich in einem russischen Geschäft umfangreiche Rjazhenka-Vorräte. Ich jubelte vorerst nur still in mich hinein. Dieses fermentierte Suchtmittel ist zwar legal, in Süddeutschland aber nur ganz schwer zu bekommen. Ich kam zuletzt im Dezember 2010 in den Genuss eines Glases voll erfrischender Rhazhenka und das war in Moskau.
Für Monsieur L. und seinen Herrn war es der Erstkontakt. „Schmeckt“ meinte mein Gastgeber, leerte das halbe Glas in einem Zug und dann – ich erschrak – goss er etwas von der dickflüssigen Masse auf einen Unterteller und stellte den auf den Boden. Der Taschenwolf schleckte die Rjazhenka mit beeindruckender Effizienz auf und bat auf seine Art um mehr. Seitdem eilt er heran, sobald er das Öffnen einer russisch beschrifteten Packung hört. Oder riecht er das für uns schwache und dabei köstliche Aroma des Milchgetränks?

Meine Sinne sind zu schwach, um alle Signale von Monsieur L. wahrnehmen zu können. Aber ein Blick in diese Augen, siehe oben, reicht. Bevor ich mit dem Schreiben dieses Artikels begann, gab ich dem Hund des Hauses einen Schluck Rjazhenka aus. Le Monsieur genoss das sichtlich. Was sicher nicht für viele seiner und meiner Artgenossen gleichermaßen nicht gelten würde. Wir sind beide Exoten in der primalen Community. Aber wenigstens bemerke ich das noch. Mit allen Sinnen.