Meinen eigenen Geburtstag mache ich an einem Datum fest. Einen besonderen Geburtstag meines besten Freundes dagegen an einem bestimmten Sonntag.
Wer meinen besten Freund gut kannte, kannte auch seinen Trinkspruch. Vater Richard Loftus SJ war ein lebensfroher Mann, er wusste sein Dasein zu genießen. Immer im Blick haltend, wem er alles Gute zu danken hatte. Und so war sein Trinkspruch: „Auf den, der uns liebt.“
Als ich Vater Loftus kennenlernte, wohnte er mit zwei anderen Jesuiten in einer kleinen Wohnung mitten in Regensburg. Zwischenzeitlich gab es nebenan ein kleines französisches Lokal, in das Vater Loftus gerne einkehrte. Kein Wunder. Etwa zwei Jahre hatte er als Priester in Südfrankreich verbracht und Kultur, Küche und Sprache der Region lieben gelernt. Als promovierter Zoologe wusste der Jesuit, was bei den legendären Fischgerichten auf dem Teller lag. Und obwohl Hefen nur bedingt zum Fachgebiet eines Zoologen gehören, sah er auch im Treiben dieser gärfreudigen Mikroorganismen einen Ausdruck des großen Geschenks, das man Leben nennt.
Im Wohnzimmer der Kommunität, wo sich allwöchentlich unser Gesprächskreis traf, wuchs eine immergrüne rankende Pflanze. Wie ein wetterfestes Dach breitete sie ihre breiten Blätter über unseren Köpfen aus, während wir erst gemeinsam lasen, dann über das Gelesene diskutierten und zum Schluss ein Glas Wein oder Portwein genossen. Natürlich nur, wer wollte. Aber eigentlich wollten alle.
Das galt auch für die eucharistischen Gottesdienste, die wir ab und an feierten. Der damalige Bischof wäre not amused gewesen, aber für Vater Loftus SJ war klar: Wo das das Bekenntnis ein anderes ist, entscheidet bei der Eucharistie allein der Glaube. Das griechische Evcharistó heißt: „Ich sage Dank“. Und im Danksagen war Vater Loftus ein Großmeister. Das heißt, er konnte das Danken jedem beibringen, wirklich jedem.
Ich sage jeden Tag Danke dafür, dass ich diesen Mann nicht nur kennen durfte, sondern dass er mich mehr als ein Vierteljahrhundert begleitet hat. Wir wohnten nie Tür an Tür, einige Zeit nach meinem Umzug aus Regensburg nach Trier glaubte ich ihn sogar verloren, weil ich nichts mehr von ihm hörte oder las.
Als mich ein gemeinsamer Freund nach Vater Loftus Verbleib fragte, war ich gezwungen, mich meinen Verlustängsten zu stellen und beim Provinzialat der Jesuiten nachzufragen. Zu meiner Erleichterung erfuhr ich, dass mein Freund noch lebte, wenn auch an einem Ort, der ihm, wie ich es sah, widerstreben musste, in – einem oberpfälzischen Frauenkloster. 😉
Nicht, dass Vater Loftus etwas gegen das weibliche Geschlecht gehabt hätte, ganz und gar nicht. Er ließ sich aber nicht gerne bevormunden, auch nicht von liebenswürdigen Ordensfrauen, die mit ganz eigenem Nachdruck zu Tisch riefen. Eine solche Szene bekamen mein Studienfreund und ich geboten, als wir Vater Loftus in der Oberpfalz besuchten. Ich grinse heute noch, wenn ich an diese Szene denke.
Als mein Studienfreund und ich das Kloster verließen und ins Auto gestiegen waren, war ich dagegen den Tränen nah. Ich glaubte, meinen Förderer gerade zum letzten Mal gesehen zu haben. Er wirkte so furchtbar gebrechlich.
Aber ich täuschte mich. Wenige Jahre später – ich lebte inzwischen in München – rief mich derselbe Ex-Kommiliton wieder an: „Vater Loftus ist nicht mehr im Kloster. Kannst du dich mal erkundigen, was mit ihm ist?“ – Ich sollte erwähnen, dass mein Freund Kurt ein Labor leitet und seit je her mit allen Wassern gewaschen ist. Nur das römisch-katholische Ordenswesen, tja, ist nicht seine Welt.
Also wieder eine E-Mail an’s Provinzialat der Jesuiten geschickt. Und wieder antworteten die Patres mit rekordverdächtigem Tempo. Unser Regensburger Jesuit war, in den Achtziger Lebensjahren angekommen, nach Unterhaching übersiedelt. Also ganz in meine Nähe, gerade eine knappe halbe Stunde mit der S-Bahn.
Viele Male habe ich Vater Loftus dort besucht. Seine Geh-Probleme, die er einem Sturz beim Wandern noch zu Regensburger Zeiten verdankte, meisterte er mit Hilfe eines Rollators.
Als Biologe wusste er, warum sein Kurzzeitgedächtnis litt, Gehör und Augen zunehmend Schwierigkeiten machten, der Rücken schmerzte. Aber Vater Loftus verlor seine Lebensfreude nicht. Und obwohl er keinen Rotwein-Vorrat mehr hortete und sein Lieblingsgetränk inzwischen die liebevoll zubereitete Heiße Schokolade war, verlernte er nicht, immer wieder sein von Herzen kommendes „Danke“ zu sagen. So, dass ich es mitsprechen konnte, ob nun nach außen hörbar oder innerlich.
Nach dem Umzug in meine Traumstadt Berlin besuchte ich meinen Freund bei fast jedem München-Aufenthalt. Und davon gab es viele. Ansonsten telefonierten wir oft. Eigentlich liegt mir das Fernsprechen nicht, aber mit Vater Loftus genoss ich es.
Im Januar 2016 sprachen wir noch miteinander. Ich ahnte nicht, dass es das letzte Gespräch sein sollte.
Am zweiten Fastensonntag taten wir genau das. Mit einer Plöppstunde, wie meine Mutter und ich das Anstoßen mit Champagner (nur mit dem, ganz wichtig!) nennen. Danach wanderte ich in die Lüneburger Altstadt und aß zum ersten Mal in meinem Leben Stint, kleine Fische, die in Norddeutschland traditionell gegessen werden. Dazu gab es ein Glas Wein.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich an diesem Tag an Vater Loftus gedacht habe. Es ist aber gut möglich, dass ich im Fischlokal leise das „Auf den, der uns liebt“ gesprochen habe, denn das tue ich noch heute regelmäßig.
Fest steht, dass Vater Loftus an diesem zweiten Fastensonntag 2016 gestorben ist. – Bei ihm spreche ich mit tiefster Überzeugung von einem Heimgang. Bei keinem anderen Menschen bin ich mir so sicher, dass er genau da und so ist, wo und wie er immer sein wollte. Vater Loftus sehnte sich, bei aller Lebensfreude, nach dem Unermesslichen, Unvorstellbaren, der grenzenlosen Liebe des Einen.
Ob wir uns wiedersehen? Diese naive Vorstellung wird der Wirklichkeit des Ewigen Lebens wohl kaum gerecht. Till we have faces heißt ein Buch, das Vater Loftus sehr schätzte. Die Kernaussagen dieses komplexen Romans von C.S. Lewis reichen weit über die antike Sagenwelt hinaus, in der das Buch vordergründig spielt. Ich halte das Buch für unverfilmbar, obwohl oder gerade weil ich ein Kino-Fan bin.
Auch Vater Loftus hatte eine Vorliebe für tiefgründige Fiktion. Zu seinen Lieblingsfilmen zählten so wenig friedliche Werke wie der Western-Klassiker „12 Uhr mittags“ und das Thriller-Drama „Heat“ mit Robert De Niro und Al Pacino. In Regensburg war das nächste Programmkino praktisch um die Ecke, kaum weiter als das französische Lokal.
Heute, am zweiten Fastensonntag 2018, hatte ich die Freude, eine Heilige Messe in einer Kirche musikalisch zu gestalten, die dem Namenspatron meines Freundes geweiht ist. Filme zeigt man in St. Richard meines Wissens nicht und Wein schenkt man beim Gemeindetreffen auch nicht aus. Aber hej, Rixdorf ist groß! Und allemal groß genug, um einen Platz zum Danke sagen zu finden, wie es nach Vater Loftus‘ Geschmack gewesen wäre.
Auf der Weserstraße wurde ich fündig. Im Kino Wolf gibt es nur Filme, die viel mehr sind als Unterhaltung. Und es gibt großartigen Wein. Schließlich fand ich sogar noch eine großblättrige Pflanze, die mich an das Jesuiten-Wohnzimmer in Regensburg erinnerte. Da fiel es ganz leicht, den Trinkspruch meines heimgegangenen Freundes leise, aber aus vollem Herzen, auszusprechen.
Danke, den Artikel habe ich gerne gelesen – und auf diese Weise vom Tod von Richard Loftus SJ erfahren. Wir sind uns in den 1970er Jahren mehrfach begegnet. Die Treffen sind mir in lebhafter Erinnerung geblieben. Da gibt es noch einen Ausspruch, der mir immer wieder einfällt, wenn ich an Richard Loftus denke. „Bitte zu platzen“, sagte er mit amerikanischem Akzent, wenn man ihn besuchte – und wies auf einen Stuhl. – Ich bin durch Google auf diese Seite gekommen und wüsste nun aber auch gerne, wem sie gehört…
Eine wirklich sehr persönliche, plastische Erinnerung. 🙂
Du hast wie immer den KERN getroffen! Eine Freude, diese Erinnerungen wach zu halten. DANKE