Ab durch die Mitte

Obwohl Berlin Mitte nicht mein Lieblings-Kiez ist, zieht es mich hier hin. Warum?

Zu Hause bin ich in Neukölln. Vor 11 Jahren, als ich anfing, ernsthaft über einen Umzug in meine Traumstadt Berlin nachzudenken, konnte ich mir das noch nicht vorstellen. Mit Moabit hatte ich Erfahrungen gemacht. Der Westen war mein Zielgebiet, der geographische wohlgemerkt. Obwohl ich mit dem weltanschaulichen Ost-Berlin keinerlei Berührungspunkte hatte, hatte ich auch keine Berührungsängste. Politische Kader hätten mich mit russischsprachigem Tuscheln nicht links liegen lassen können, weil ich Russisch verstehe, hähä.

„Mitte gehört zum Osten“ hörte ich, als meine Umzugspläne den Point of no return überschritten hatten. Ich weiß noch, wer mir das sagte. Aber ich erinnere mich nicht an den Kontext. Nach Mitte ziehen kam nicht in Frage. Auf Münchener Verhältnisse übertragen (schwierig, ganz schwierig…) hätte das geheißen, meine vier Wände auf der Theatinerstraße aufzustellen. Schon finanziell blanker Wahnsinn. Und dann noch diese steinreichen Nachbarn. Nein danke. Dann doch lieber raues Arbeitersiedlungs-Pflaster. In Berlin ist das für gewöhnlich Kopfsteinpflaster. Nicht reich, aber von ganzem Wesen steinig.

Zum Beispiel in Rixdorf, wo ich heute Morgen meinen Organistendienst versah. Mag in Mitte die Wiege Berlins liegen – dazu später mehr – ist Rixdorf (steht als alte Kurzform für „Richardsdorf“) das ursprüngliche Neukölln. Als Wahlberliner bin ich kein felsenfest in einem Kiez verwurzelter Mensch. Aber Wurzeln, die man im übernommenen Garten vorfindet, sind Fakten.
Im Fall von Rixdorf respektive Neukölln habe ich mich von Anfang an zu Hause gefühlt. Ein Gefühl, das bis heute unterbrechungsfrei anhält. In Neukölln liegt meine Kirchengemeinde, lebt ein bedeutender Teil der Menschen, die mir am Herzen liegen und hier kenne ich mich am besten aus.

Aber ich wäre nicht mehr ich selbst, wenn ich mich in meiner Homebase verschanzte. Bisher hat noch jeder ungläubig reagiert, wenn ich beschrieb, wie ich im Laufe einer jeden Arbeitswoche fünf beziehungsweise sechs Berliner Stadtteile heimsuche. Für mich macht das nach wie vor eine gewaltige Portion Lebensqualität aus, während das andere als Belastung ansehen. Ich bin und bleibe ein Wandervogel. Wegen der Dimensionen der Bundeshauptstadt bin ich froh, für meine Dienstwege die Öffentlichen nutzen zu dürfen.

Sonntags allerdings spielen eben diese nur eine untergeordnete Rolle. Als ich heute binnen einer knappen Stunde von Kirche zu Kirche wollte, war das nur mit Hilfe von S- und U-Bahn möglich.
Nicht erst seit Beginn meiner regelmäßigen Organisten-Dienste in Rixdorf gehe ich katholisch fremd. Schon in München, ja sogar während des Studiums in Regensburg, tanzte ich mit Vorliebe auf zwei kirchlichen Hochzeiten. Hintereinander.
Der Grund war immer der gleiche: Wenn bei einer Messe die Teilnahme an der Eucharistie rein geistig war, suchte ich Vervollständigung. Theologisch ein heißes Eisen, ich weiß. Aber was will man von einem doppelt Getauften wie mir anderes erwarten. 😉

Wenigstens bin ich bußfertig. Bei meinen Fremdgeh-Aktionen ist es Ehrensache, dass ich mindestens eine der beiden Wegstrecken, hin oder zurück, zu Fuß gehe. Heute war es nur der Rückweg. Von der Kathedrale nach Hause, das sind schon ein paar Kilometer.
Was diese so richtig schön macht: Es liegen wundervolle Cafés am Wegesrand. Und auch wenn ich nicht so prassen kann und will wie die Sonnenanbeter, die ich heute Eis, Bier und andere Sünden verzehren sah – mir ist ein gepflegter Espresso Luxus genug. Vor allem, wenn ich vorher noch ein köstliches primales Apfeltörtchen im Nikolai-Viertel bekomme. Sylke Oehlers Café zur alten Zicke ist Pflichttermin, wenn ich in der Gegend bin.

Im Nikolai-Viertel liegt Berlins Ursprung, seine Wiege sozusagen. Touristen durchstreifen den Kiez oft, ohne sich seines besonderen Charakters bewusst zu sein. Dabei ist hier Berlin viel echter als am Brandenburger Tor, wohin die nahegelegene lange Allee Unter den Linden führt. Wenn man vom Nikolai-Viertel nach Westen geht, kommt man an der Kathedrale St. Hedwig vorbei. Geht man nach Osten, kommt man bald vor allem durch seelenlose Häuserschluchten. Nein, hier ist Berlin nicht so schön. Aber wer abgehärtete Fußsohlen hat, kommt bald nach Kreuzberg. Das hat etwas, echt. Für mich ist es trotzdem nur Durchgangsstation. Neukölln voraus, wer will mich aufhalten?

Antwort: Der Erzengel Michael. Wenige Meter nördlich der Grenze zwischen Mitte und Kreuzberg liegt die katholische Kirche St. Michael. Das Gebäude hat kein Dach mehr, Gottesdienste feiert man im Seitenschiff. Die ehemals selbständige Gemeinde wurde in die Kathedralgemeinde eingegliedert.
Vor einigen Wochen wurde ich angefragt, ob ich einen Orgeldienst in St. Michael übernehmen könne. Wahrscheinlich war damit die gleichnamige Gemeinde in Kreuzberg gemeint. Zwei Erzengel in Berlin. Hm, an welchen Lieblingsfilm muss ich da wohl gerade denken? (Kleiner Tip: Er kommt gerade in einer frisch renovierten Fassung in die Kinos und ich muss ihn sehen!)

Wenn ich den „Himmel über Berlin“ in der 4K-Fassung gesehen habe, voraussichtlich im wunderbaren Kino Wolf, werde ich einen entsprechenden Blog-Artikel schreiben.
Heute schließe ich mit einer kleinen Abendmusik aus Neukölln. Musikalisch habe ich den Sonntag begonnen, musikalisch schließe ich ihn ab. Dazwischen liegt ein Gang durch Berlins Mitte, den ich hiermit für Euch vertone. Wer so weit gelesen hat, soll auch belohnt werden. <3 https://soundcloud.com/polodessit/durch-die-mitte

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