Zu aller Zeit

Der Volksmund sagt, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Ich bin anderer Meinung.

Jedenfalls gibt es Tage, an denen fast von Anfang an klar ist, dass sie denkwürdig werden – im besten Sinne des Wortes.
Der vergangene Sonntag war für mich so ein Tag. Gut, er fing früher an, als mir lieb war. Eigentlich bin ich nämlich ein ziemlicher Langschläfer, man könnte auch sagen: eher eine Eule als eine Nachtigall. Aber im Laufe der Jahrzehnte erwarb ich mir Freude an der frühen Morgenstunde. Vor allem, wenn ich mich auf die erste Station des neuen Tages freue.

Am besagten Sonntagmorgen freute ich mich auf eine Premiere. Ich bin ein bekennender Nomade, sowohl was Arbeit, als auch was Freizeit angeht. Nur beim Thema Wohnung klebe ich an der Scholle, respektive der Fußbodenheizung. Mit dem Zelten konnte ich mich nie anfreunden. 😉

Dafür tändel ich besonders gerne mit sangesfreudigen Ladies. Nein, wer mich kennt, weiß, dass ich das genaue Gegenteil eines Frauentyps bin. Die sangesfreudigen Ladies sind denn auch keine Menschen, sondern Orgeln.

Ehe mir jetzt jemand musikalischen Sexismus vorwirft (von wegen Vergleich von Instrumenten mit weiblichen Menschenwesen) – ich weiß reale Persönlichkeiten von Königinnen der Kirchenmusik wohl zu unterscheiden.
Das ändert aber nichts daran, dass ich jeder Orgel mit einer angemessenen Hochachtung begegne. Wer ein nicht elektrisches Instrument spielt, weiß, dass jedes Instrument anders auf direkte Umwelteinflüsse reagiert. Je besser das Instrument ist, um so empfindlicher reagiert es auf Temperaturschwankungen, sich ändernde Luftfeuchtigkeit und so weiter. Menschliche Stimmungen sind von anderen und wesentlich komplexeren Umständen abhängig. Und anders als bei baulichen Kunstwerken, zu denen ich Orgeln zähle, ist es nicht angebracht, die Qualität eines Menschen einzuschätzen. Wenn ich einen Gottesdienst musikalisch mitgestalte, fahre ich besser, wenn ich das Verhalten der Orgel einschätzen kann. Ein Mensch kann mich warnen, wenn er / sie schlecht drauf ist. Eine Orgel warnt nicht, sie schießt sofort scharf. Mit falschen oder ausbleibenden Tönen.

Ehrlich gesagt hatte ich am Sonntagmorgen auf dem Weg nach Berlin Mitte keine Angst vor schrillen Orgeltönen. Ich hatte mir das Instrument am Freitag bereits angesehen und natürlich auch ein paar Töne darauf gespielt.
Im Anschluss hatte ich mich auch noch kurz der kleinen Chor-Orgel unten im Kirchenraum gewidmet. Ich fühlte mich eingeladen, einer wirklichen Königin ein Ständchen zu bringen. Ihre Statue beeindruckte mich sehr.

Anderthalb Tage später stand ich wieder vor der Sankt-Michael-Kirche in Berlin Mitte. Wenige Hundert Meter südlich, in Kreuzberg, gibt es eine andere Kirche mit demselben Namenspatron. Die Kreuzberger Kirche ist jünger, die Beziehung zwischen beiden Gotteshäusern ist ziemlich kompliziert. Zu kompliziert für dieses Blog.
An dieser Stelle mag es reichen, dass ich sicher sein konnte, nicht vor der falschen Kirchentür zu stehen.

Dabei hätte man als Außenstehender schnell auf diesen Gedanken kommen können.
Sankt Michael in Mitte hat zwar eine schmucke Front, aber wer etwas genauer hinsieht, erkennt einen schweren Fehler. Direkt hinter der Vorderwand ist eine Riesenlücke. – Das Kirchenschiff wurde am 3. Februar 1945 durch Brand- und Sprengbomben zerstört. Anfang der 50er Jahre wurde das Querschiff wiederhergestellt und seit den 60er Jahren gibt es auch wieder eine Orgel. Genau die, an der ich am 29. Sonntag des Jahreskreises mein Debüt in Sankt Michael gab.

Schon seit längerem wurde ich immer wieder eingeladen, hier einen Vertretungsdienst zu übernehmen. Es hatte aber nie geklappt, denn seit Ostern bin ich einer von zwei festen Organisten der Rixdorfer Kirche St. Richard. (Mhh, woher kommt wohl die Namensähnlichkeit? Berliner wissen dit, wa. 😀 )

Diesmal stand einem Einsatz in Mitte von Seiten Rixdorf (ursprünglich: Richardsdorf, siehe oben) nichts im Wege. Dafür hatte ich geplant, gar nicht in Berlin, sondern in meiner schwedischen Lieblingsstadt Malmö zu weilen.
Auch dort gibt es wundervolle Orgeln. In der (evangelischen) Kirche S:t Petri baut man gerade ein neues Instrument, das das größte von ganz Skandinavien wird. – Piep-piiieep-piiep… Wie die Schwedische Kirche Malmö gerade meldet, wird die jüngste Orgel der Bonner Werkstatt Klais voraussichtlich im April 2019 fertiggestellt. – Als ich im Juli in Malmö war, hieß es, es werde im Oktober 2018 so weit sein. Und ich freute mich sehr darauf, die neue Orgel bereits in Aktion oder gar bei der Einweihung zu erleben. Denn: Ich hatte fest vor, dieses Jahr noch einmal nach Malmö zu fahren.

Was diesen Plan vereitelte, war das liebe Geld. Ohne Moos nix los, kein Moos ohne Nässe und die letzten Monate waren bekanntlich knacketrocken. Bei mir nicht nur in Sachen Landregen.
Von meinem Lieblingsprofessor habe ich gelernt, dass man sein Leben am besten „sachlich“ (das heißt „der Realität angemessen“) annimmt. Eben so, wie es kommt. So änderte ich meinen Urlaubsplan und freute mich auf insgesamt 6 Tage mit Berliner Traumstadt-Programm. Schließlich lebe ich seit nunmehr fast 6 Jahren in meiner persönlichen Traumstadt und träume immer noch. Es bleibt allerdings Urlaubstagen vorbehalten, voll in das einzutauchen, was Berlin für mich ausmacht. (Nein, das ist nicht das Club-Leben, das überlasse ich neidlos Euch, wenn Ihr darauf steht.)

Ich stehe dazu: Für mich ist Berlin in erster Linie ein spirituell reicher Ort. Schon klar, dass sich jetzt mindestens Dreiviertel meiner nicht gerade zahlreichen Leser/innen an die Stirn hauen. Tut euch nicht weh.
Denn es geht noch heftiger.

Am Samstag-Abend, während sich das Berliner Party-Volk an der Berghain-Tür drängelt, gab ich mir im immerhin gestreamten Pantoffelkino einen Film. Und was für einen. Mir war schon klar, dass er handwerklich nicht gerade eine Meisterleistung sein würde. Und nach wenigen Minuten wusste ich: Ich sah ein filmisches Pamphlet bibeltreuer US-Christen, die Naturwissenschaft und freie Kunst für Teufelszeug halten. Und beides buchstäblich.

Obwohl ich wusste, dass ich hier Botschaften aus einer Parallelwelt empfing, in der ich als gläubiger Katholik nicht zu Hause bin, rührte mich der Film an mindestens zwei Stellen viel tiefer an, als ich das während des Ansehens gemeint hatte.
Nicht, dass ich jetzt Vertretern der sogenannten „Christlichen Wissenschaft“ das Wort reden würde oder mich einem geozentrischen Weltbild anschlösse. Ich bin auch nach wie vor der festen Überzeugung, dass Kunst und Denken nicht Vehikel von Glaubensaussagen zu sein haben.

Was ich mitgenommen habe, und zwar in den Sonntag hinein, war etwas Anderes, was im Film „Time Changer“ (2002) zur Sprache kommt.
Auch wenn die bestimmenden Stimmen in der Welt die lautesten sind, sie die meiste Aufmerksamkeit erregen und in der Wahl der Mittel virtuos sind – es gibt auch diese leise Stimme, auf die nur wenige und die dann auch nur selten hinhören.
Mein Blog-Post ist jetzt schon viel zu lang und wenn ich jetzt auch noch versuchte, diese Stimme zu beschreiben und von dem Pfeifen meines persönlichen Vogels zu unterscheiden, na Mahlzeit, dann würde es der 30. Sonntag im Jahreskreis.

Deswegen beschreibe ich nur kurz, wie sich die leise Stimme am Sonntag geäußert hat:

Das vermeintlich einfache Debüt wurde zum beglückenden Mehrfacheinsatz an beiden Orgeln (!) mit zusätzlichem Kantorendienst.

Nach der Messe wollte ich im Café Zur Alten Zicke bei meiner lieben Freundin Sylke einkehren, aber das Café hatte noch geschlossen. Keine Stimme, aber eine Stimmung brachte mich zu einer Planänderung. Und ich genoss unerwartet einen Hauch italienischer Lebensart – mitten in Berlin. Tja, Münchner, tut mir leid, aber die wirkliche Weltstadt mit Herz liegt an der Spree. 😉

Am Nachmittag wollte ich nochmal nach Sankt Michael zurückkehren und auf der Orgel ein paar Stücke einspielen. Ich hatte den Generalschlüssel zur Kirche und dachte mir, am Sonntagnachmittag sei da bestimmt nichts mehr los.
Ich schloss die Tür auf und… erlebte eine herbe Enttäuschung. Von wegen nichts los. Statt dessen hörte ich wunderschönen Chorgesang zur Gitarre.
Es war kurz nach Zwei. Ich dachte mir, vielleicht ist es ja eine Probe und die dauert womöglich bis 15 Uhr. Weil das Sonnenlicht so schön war, setzte ich mich auf eine Bank vor der Kirche, von wo aus ich die Kirchentür im Blick behalten konnte.

Es wurde 15 Uhr und – nichts tat sich. Ich beschloss, dass es besser sei, zu gehen und mich lieber auf ein mögliches Wiedersehen mit der Orgel im nächsten Jahr zu freuen.
Ich war noch nicht weit gekommen, da sprach die oben erwähnte Stimme überdeutlich. Es ist und bleibt eine Sache zwischen der Stimme und mir, woran ich sie erkenne. Der Stil ist einfach unverkennbar. Ich bin gespannt, in der Ewigkeit zu erfahren, wer genau dahinter steht.

Ich machte leicht grummelnd auf dem Absatz kehrt, ging zur Kirchentür, schloss auf und – einige Leute kamen mir entgegen. Sehr nette Leute.
Wie sich herausstellte, hatte ich den Anfangsteil eines Monatstreffens der geistlichen Gemeinschaft „Monte Crucis“ mitbekommen, als ich vor einer Stunde ins Foyer der Kirche gekommen war. Nun schloss sich noch eine Vesper in freier Form an. Ich fragte, ob ich daran teilnehmen dürfe und die Antwort war ein freudiges „Ja“. – Ich liebe das Stundengebet. Daher war die Freude beidseitig.

Nach der wunderschönen Stundengebetsfeier, die ich bestimmt nicht zum letzten Mal besucht habe, hatte ich dann doch noch Gelegenheit, die herrliche Orgel von Sankt Michael in Mitte besser kennenzulernen. Drei Stücke habe ich insgesamt aufgenommen. Auf meinem Youtube-Kanal könnt Ihr Variationen über ein bekanntes (und ziemlich martialisches) Michaels-Lied anhören. Mit Bild, in Farbe und bunt.
Ein zweites Stück darf ich nicht veröffentlichen, der Komponist lebt Gott sei Dank noch und heutzutage gelten andere rechtliche Regeln als im 17. Jahrhundert.

Aus eben dieser Epoche stammt das Kirchenlied „Lobe den Herren den mächtigen König“ – ein Klassiker, der auch den nicht gerade als fromm geltenden Bert Brecht packte. Er hat jedenfalls einen eigenen Liedtext dazu geschrieben.

Im Original-Text, den Joachim Neander 1680 schrieb, sind Verse enthalten, die mich tief berühren.
Wer möchte, kann, während das Lied jetzt von der Sauer-Orgel in St. Michael Berlin erklingt, zum Gotteslob (Lied Nummer 392 in der neuen Ausgabe, 258 in der alten) oder behelfsweise hierher greifen. Vielleicht findet sich ja ein Satz oder ein Gedanke, der Dir klar macht: Die Liebe umgibt Dich ständig, sie lässt sich immer heraushören, wenn man nach ihr fragt. Und deswegen soll man den Tag nicht erst am Abend loben, sondern tut es am besten immer.  Oder mit den Worten eines altgedienten Kehrverses: „Preiset den Herrn zu aller Zeit / denn er ist gut.“

2 Gedanken zu „Zu aller Zeit

  1. Sehr , wie immer, anspruchsvoll. Die Zeilen-Anzahl reicht für eine
    kleine Kerze , garniert mit einem Glas Rotwein oder einem guten
    Bier. Es lohnt , sich die Lese-Zeit zu nehmen und zum Schluss der Königin der Musik zu lauschen.

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