Berliner Kontrapunkt-Theorie

Johann Sebastian Bach, von mir liebevoll #JSB genannt, war ein Großmeister der Kontrapunkt-Kunst. Heute trank ich Kaffee mit einem exzellenten Musiker, der nicht nur Bachs Musik meisterhaft spielt. Und der sich wunderte, dass ich mich als Menschenfreund in Berlin zu Hause fühle. Heute geht’s um mein Liebes-Geheimnis.

Der Meister-Musiker, seines Zeichens Pianist, Komponist und bildender Künstler in einer Person, hadert mit Berlin. „Im Alltag, etwa beim Einkauf, muss man ewig um ein Lächeln kämpfen – meistens, ohne es zu bekommen. Und wenn man etwas möchte, was den Regeln widerspricht, erntet man noch nicht einmal ein Bedauern. Nur den Hinweis auf die geltende Regel.“

In seiner Heimatstadt, so der Kanadier, sei dieser Stil undenkbar.
Nun war ich noch nie jenseits des Großen Teiches, werde wahrscheinlich auch nie dahin kommen. Aber ja, gefrorene Verkäufer-Mienen in auf den ersten Blick einladenden Geschäften habe ich auch schon gesehen. Nicht nur in Berlin, aber hier öfter als anderswo.

Spree-Athen ist berühmt-berüchtigt für die Schnodderigkeit seiner Großstädter. Ich dagegen bin bekennendes Landei und halte mich an folgende Regel: Jeder Mensch, der mir begegnet, hat ein unverbrüchliches Recht, von mir freundlich behandelt zu werden. Wenn er sich mir gegenüber dauerhaft unmöglich benimmt, steht ihm immer noch Höflichkeit zu. Unter dieses Niveau gehe ich nie, notfalls suche ich eben das Weite. In der Tat habe ich es bisher geschafft, nie jemanden mit feindseligem Vorsatz anzugehen. Ein paar laute Worte waren stets das Maximum, wenn mich jemand ernsthaft böse machte. Und selbst dieser Zorn verrauchte immer schnell.

Und mit dieser Einstellung kann man sich in Berlin heimisch fühlen? Mein Gegenüber heute konnte das nicht begreifen. Vermutlich fehlen ihm die Erfahrungen, die ich in den 90er-Jahren machte. In Odessa, meiner älteren und so leider nicht mehr existierenden Herzensheimat.

Der typische Berliner ist gerne mal unfreundlich, kaltschnäuzig, schimpft auf Gott und die Welt. Verglichen mit einem Odessiten sowjetischer Prägung ist er aber eine wahre Frohnatur, der die Sonne aus dem… na ja, Ihr wisst schon. 😉

Eine kleine Episode aus dem Jahr 1993. Ich wollte Butter kaufen und ging dazu in ein kleines Vorstadt-Geschäft, in dessen Nähe ich für ein paar Wochen Quartier bezogen hatte. Ich wusste, dass dieser Laden über eine Kühltheke verfügte, was den Händler als potentielle Butter-Quelle qualifizierte.
Als ich eintrat, sah ich zwar eine leere Vitrine, aber gleichzeitig einen riesigen Butterpäckchen-Stapel im Nebenraum. Die Tür stand sperrangelweit offen und ein schwaches aber umso angenehmeres Molkerei-Aroma wehte in den Verkaufsraum herüber. Als ich an der Reihe war, fragte ich so freundlich wie immer (siehe oben) die missmutig dreinblickende Verkäuferin nach besagter Butter.

Ich stelle jetzt mal eine gewagte Behauptung auf: In einem kleinstädtisch-deutschen Tante Emma-Laden hätte die Verkäuferin vermutlich gesagt, dass die Lieferung gerade erst eingetroffen sei und dass ich später noch einmal wiederkommen solle, wenn die Ware sortiert sei. Vielleicht wäre sie sogar kurz hinübergegangen und hätte ein Päckchen aus dem Stapel gezogen.

Doch nur schlimmer geht immer. Mit steinerner Miene und rau scharfem Ton belehrte mich seinerzeit die Verkäuferin: „Es gibt keine Butter!“ – Jung und naiv wie ich war, meinte ich, immer noch ungezwungen lächelnd und kein bisschen erbost: „Aber da drüben sehe ich sie doch.“ Jetzt bekam ich meinen Abrieb. Zwar in den selben Worten wie zuvor („масла нет!”), aber der Ton war markschneidend. Und dann kam gleich das bekannte „Der nächste”, ohne angehängtes „bitte” natürlich. Wo hätte das denn hinführen sollen – knapp zwei Jahre nach dem Zusammenbruch der ruhmreichen Sowjetunion?

Unabhängig vom sowjet-kulturellen Hintergrund habe ich die echten Odessiten als Menschen kennengelernt, die ihr Gegenüber gerne in Streitgespräche verwickelten. Auch lautstark, wenn sich die Gelegenheit bot. Und in genau diese Leute habe ich mich spontan verliebt. Spätestens, nachdem ich zum ersten Mal eine Versöhnungsszene erlebt hatte.
In einem Bus waren zwei ältere Damen aneinandergeraten. Vermutlich ging es um einen Sitzplatz. Nach Lautstärke, Schimpfvokabular, Schärfe und Gesten standen die beiden kurz davor, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen. Dann mussten beide aussteigen. Von einem Augenblick auf den anderen, schlug die eine Frau eine ganz andere Stimmlage an und lächelte. Die andere wechselte ebenso schnell in den anderen Modus und… man verabredete sich auf einen Tee, um ein wenig zu schwatzen. Ähnliche Szenen sollte ich in Odessa noch mehrere erleben.

Tja, Lemberg ist nicht Prag. (Ähem, sorry, das war ein Odessafahrer-Insider. 😉 ) Soll heißen: Die Berliner Schnodderigkeit, mit der sich der aus Kanada stammende Künstler begreiflicherweise schwer tut, ist von ganz anderer Art als die Lust am emotionalen Wortgefecht, die im russischen Kulturraum weit verbreitet ist. Und ich bin noch einmal ganz anders gepolt. Gegensätze ziehen sich an, sagt man.

Ich habe meine Zweifel, dass der Volksmund mit dieser Aussage in allen Fällen Recht hat. Mehr halte ich von der Annahme, dass es harmonische Kontraste gibt.

Mit einer Kunstpädagogin geriet ich über dieses Thema einmal fast in Streit. Mir war nur klar, dass sie am längeren Hebel saß. Und das unter anderem, weil ich die Aufgabe nach meinem Kopf verdreht hatte.
Wir sollten (mit Wasserfarben) ein Bild malen, das konsequent entweder in kalten oder warmen Farben gehalten war. Und was macht der kleine Thorsten? Das gelbe Honigglas strahlt auf satt-blauem Grund.

Gelb – warm. Blau – eiskalt. War mir klar. Die Aufgabe gefiel mir aber nicht.

Ich würde die Aufgabe heute genau so wieder ausführen. Nach dem Motto: Ich kenne die Regeln und darf sie deswegen mit Bedacht brechen. Big Daddy #JSB machte das auch schon. Immerhin der unumstrittene Großmeister der Kontrapunkt-Kunst und heute ein – naturgemäß unerreichbares – Ideal für mich. Genau so wie meine Tastenrührerei niemals auch nur entfernt an die Kunst meines heutigen Gesprächspartners heranreichen wird. Aber von letzterem hörte ich heute immerhin, dass ich positive Energie in meine Umwelt bringe. Und meinen kirchenmusikalischen Ansatz fand er staunenswert.

Dieser Ansatz fußt auf demselben Grund wie meine Liebe zu Berlin: Ich bin hier hin gekommen, ohne ein helles Licht zu sein oder das Potential dazu zu besitzen. Das ist weder Koketterie noch Larmoyanz. Man muss schon sehr kurzsichtig sein um zu verkennen, dass es quer durch die Zeiten und Räume etliche Menschen gibt und gegeben hat, denen größere Gaben anvertraut wurden.
Die Kombination macht es aus und das Setting. Beides liegt nicht bei einem selber, jedenfalls nicht allein. „Wir können so dankbar sein, dass Gott Dich uns geschickt hat.“ Diesen Satz habe ich erst einmal in meinem Leben gehört und zwar hier in Berlin, von jemand, der so etwas nicht sagen muss, es aber ganz ernst meinte. Ich erinnere mich an die vielen Besuche 2000 bis 2012 in meiner Traumstadt Berlin, bei denen ich mir immer wieder die quälende Frage stellte: „Was hätte ich den Menschen hier zu bieten?“
Quälend war die Frage, weil ich keine Antwort zu geben wusste. Man beachte den Konjunktiv II. Dann kam ein Anstoß, bald der zweite, dann noch einer. Und dann – war ich gefordert. Butter bei die Fische, Hand anlegen, nicht nach Antworten grübeln, sondern sie sich geben lassen. Auch wenn sie quer sitzen, ungehobelt erscheinen, widerborstig.

So ist er eben, der Kontrapunkt vom obersten Großmeister. Und nein, der heißt nicht #JSB, Alter.

3 Gedanken zu „Berliner Kontrapunkt-Theorie

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