Liebe mit Rückenwind

Die Liebe Christi drängt uns – das schrieb Völkerapostel Paulus der Gemeinde von Korinth. Drängen wirkt meistens von hinten nach vorne. Was passiert, wenn man ihm das Gesicht zuwendet?

Wenn es mir nicht so toll geht, flüchte ich allzu gerne in die Vergangenheit. Zu Zeiten von SARS Cov2 schneller als gewohnt.
Die zehn Monate, die ich Mitte der 90er Jahre in Odessa verbrachte, haben mich nachhaltig geprägt. Deshalb bieten sie sich als Fluchtpunkt an. Natürlich weiß ich, dass sich diese Erlebnisse und Umstände nicht wiederholen lassen, weder für mich noch für irgendjemanden sonst. Wenn ich manche Briefzeilen von damals lese, wäre das auch keine gute Idee. Es war nicht alles so schön, wie es im Rückblick erscheint.

Aber vieles. Es gab Augenblicke, bei denen noch während des Erlebens klar wurde, dass ich gerade eine Sternstunde, besser: einen Sternmoment, hatte. Ich verstand mich damals noch als S/W-Foto-Enthusiasten und wundere mich heute, wie wenig Aufnahmen ich gemacht habe. Das lag vielleicht auch daran, dass es nicht so einfach war, im Odessa der 90er Jahre gutes Filmmaterial zu bekommen. Die ORWO-Meterware hatte ich zu Hause gelassen, ebenso Entwicklungsdose, sonstige Behälter und den Dunkelkammersack. Und sowohl im anfänglich bezogenen Wohnheim als auch bei meiner späteren Gastfamilie hätte ich Kopfschütteln mit der Frage geerntet, ob ich ein Fotolabor einrichten dürfte. Aber die Kopfkamera war die ganze Zeit geladen und die nahm sogar Videos auf. Die ich bis heute abrufen kann, ganz ohne Youtube.

Die meisten echten Fotos schossen damals andere. So auch das Bild, das über diesem Artikel zu sehen ist. Es zeigt – neben mir in der Mitte – den hier etwas ernst dreinblickenden, aber eigentlich humorvollen damaligen Chef der Caritas Odessa, Viktor Tichonovitsch Ivanov. Der jüngere Mann auf der anderen Seite des Sofas ist der seinerzeit als Militärpfarrer wirkende Thomas Eisenmenger. Der hatte im Vorfeld einer Offiziersschulfahrt, die er als Seelsorger begleitete, Spenden für wohltätige Einrichtungen der Hafenstädte gesammelt, wo die Offiziersanwärter an Land gehen sollten. Konfessionsübergreifend und auch nicht kirchliche Institutionen kamen zum Zuge, zum Beispiel ein städtisches Waisenhaus.

Bei der römisch-katholischen Gemeinde fand der junge Priester allerdings besonders herzliche Aufnahme. Weil er kein Russisch konnte, wurde ich ihm als Quasi-Dolmetscher zur Seite gestellt. (Ich sage bewusst „quasi“, weil ich echte Dolmetscher*innen über die Maße bewundere.) Schnell waren wir per du und es freut mich, dass wir nach wie vor in regelmäßigem Kontakt stehen, wenn auch nur per E-Mail. Corona-Zeit eben. Aber wenn diese Misere überstanden ist, hopp, fahre ich in’s Ruhrgebiet. Versprochen!

In NRW gibt es noch jemand anderen, den ich aus Odessa kenne und den ich gerne wiedersähe. Allerdings weiß ich bei dieser Person nicht, wohin genau ich fahren müsste und NRW ist groß. Weiß ich, ich komme ja da her, woll? 😉 – Eine andere Freundin, die vor der Pandemie fast regelmäßig in Deutschland war, aber nach wie vor in ihrer Heimatstadt am Schwarzen Meer lebt, fragte mich bei jedem Treffen: Wann kommst du endlich wieder nach Odessa?
Ich drückte mich jedes mal um eine konkrete Antwort. Als ich 2008 zum letzten Mal in Odessa war, kam mir vieles so fremd weil total verändert vor. Und ich fürchte, käme ich jetzt wieder, wäre gar nichts mehr von dem Odessa da, in das ich mich im vorigen Jahrhundert unsterblich verliebte.

Ich kann mich an viel spätere Momente erinnern, in denen mir Bilder, Geräusche und sogar Gerüche aus dem nach-sowjetischen Odessa ins Bewusstsein drängten. Das passierte zuletzt – heute.
In St. Richard Berlin Rixdorf war ich mit dem Orgelspiel eines etwas traurigen Sonntagsgottesdienstes beauftragt. Traurig nicht nur, weil niemand Weihnachtslieder mitsingen durfte, sondern auch, weil die Gemeinde zwei polnische Ordensschwestern verabschiedete. Die hatten viele Jahre im benachbarten Seniorenheim gewohnt und gewirkt, das zur Kirchengemeinde gehörte. Bis zum 31. Dezember 2020. Seit dem Jahresanfang 2021 ist das Heim keine kirchliche Einrichtung mehr und die beiden Schwestern müssen es verlassen. Ich habe selbst mehrfach erlebt, wie liebevoll sie sich um die alten Menschen kümmerten. Furchtbar, wie traurig das ist!

Heute Morgen hatten einige Gemeindemitglieder für die in einen weiter nördlich gelegenen Konvent ziehenden Schwestern ein Lied vorbereitet. Kein selbstgeschriebenes, sondern ein polnisches Weihnachtslied, mehrstimmig zur Gitarre gesungen. Und hier hatte ich meinen Flashback.
Exakt dieses Lied hatte ich ziemlich genau 26 Jahre früher zum letzten mal gehört. In Odessa. Von drei polnischen Salesianerinnen, von denen immerhin eine, Sr. Elisabeta, hier im Blog schon gewürdigt wurde. Sie war damals für das Gitarrenspiel verantwortlich.
Als ich jetzt mit diesen Klängen im Rücken von der Kommunion auf die Orgelempore zurückging, hatte ich nicht nur eine länger anhaltende Gänsehaut, sondern musste auch mit den Tränen kämpfen. (Muss ich jetzt wieder, während ich davon schreibe.) Na dann heul doch? Das ist auf der Orgelbühne nicht so gern gesehen. 😉

Ich musste ja noch mein persönliches Dankeschön und Lebewohl an die beiden Schwestern loswerden. Ein anderes polnisches Weihnachtslied, das im katholischen Odessa 1994/95 schwer angesagt war. War es heute in St. Richard Berlin Rixdorf immer noch. So lange und laut habe ich noch nie Beifall bekommen.

Es ist aber auch schön, dieses Lied. In Odessa wurde ein russischer Text dazu gesungen und das Liedblatt ist gerade nicht auffindbar. Deswegen weiß ich nicht, wie es im polnischen Original heißt. Es hat einen leicht nach vorne drängenden Charakter. Und Achtung, eine ausdrückliche Ohrwurm-Warnung!
Wenn in den nächsten Tagen rauer Wind von vorne kommt, drehe ich mich kurz um. Nicht, um den Blick in die Vergangenheit zu werfen, sondern um das innere Gehör auf diese Melodie zu richten. Die mich ermuntert, nach vorne zu gehen. Mit diesem Sound im Nacken.

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