Stille, Nacht und Sehnsucht

„Für mich gehört das Lied einfach zu Weihnachten.“ – Die Aussage stammt von einem norddeutschen Geistlichen, der Stille Nacht 2020 ebenso wenig im Gottesdienst singen durfte wie seine Gemeinde. Konnte der Neuköllner Orgelnomade helfen?

Ich habe mir Mühe gegeben und musste dabei das Rad nicht neu erfinden. Höchstens die Speichen polieren.

Für Orgelspieler*innen ist es seit Mai mehr Regel als Ausnahme, dass sie für die Kirchenmusik allein verantwortlich zeichnen. Im Sommer und Herbst konnten wir die Gemeinde einige ausgewählte liturgische Lieder wieder mitsingen lassen. Gerade beim Sanctus-Lied nicht unwichtig, denn laut Einleitungstext stimmt man hier in den Chor der Engel und himmlischen Mächte ein.

Krippen-Engel mit Knollennase, St. Marien Lüneburg

Engel dürfen ohne Maske jubeln.
Außenkrippe von St. Marien Lüneburg

Wer möchte sich bei diesen Meistersängern schon blamieren? Wir römische Katholik*innen eher nicht. Unsere protestantischen Glaubensgeschwister haben da vermutlich weniger Sorge.

Zu Weihnachten kann sich allerdings niemand damit herausreden, dass physisch an Pavarotti erinnernde himmlische Wesen eine Erfindung von uns Bombast-Rockern post-etruskischer Prägung sind. Mag ja sein, dass von Putten in der Bibel nirgendwo die Rede ist – ich mag sie auch gar nicht, die pausbäckigen Flügelträger. Aber von Engels-Chören berichtet kein Geringerer als der Evangelist Lukas:

(13) Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen:
(14) Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
Luther-Bibel (2017) Lk 2,13-14

Die Latte hängt also hoch zu Weihnachten. Und ausgerechnet jetzt dürfen wir nicht einstimmen. Auf Chor-Deutsch: Eine Stunde Tacet.
Nicht jedes Gemeindemitglied ist mit Chor-Disziplin vertraut. Und dann können sich Solist*innen noch so anstrengen, die Meute (‚tschuldigung, war nicht so gemeint) still zu halten – bei echten Weihnachts-Hits wird aus dem Schweigen ein Summen, aus dem Summen ein vermeintlich leises Singen und dann…

„Stille Nacht, heilige Nacht“ ist so ein Mega-Knaller. Und ja, der Text gibt hier ordentlich was vor. Wird eingangs noch die Stille besungen, was paradox genug ist, heißt es gegen Ende:

…tönt es laut von fern und nah
Christ der Retter ist da!

Wessen Stimme an dieser Stelle noch nicht in den eigenen Tränen ertrunken ist, der lässt hier Zunge und Stimmbänder endgültig von der ohnehin langen Leine. Alles schon selbst erlebt. Und dann war es mir auch egal, dass dieses Nachtlied um kurz vor Mittag ertönte. Nachdem die Mühldorfer Stadtkirche so gut wie möglich abgedunkelt worden war.

Die Kirche, in der ich 2020 meinen einzigen Präsenz-Weihnachts-Gottesdienst mitfeiern konnte, lässt sich beim besten Willen nicht abdunkeln. Wenn es draußen hell ist, ist es automatisch auch drinnen lichtdurchflutet.
Bekanntermaßen zappenduster sah es dafür dank niedersächsischer Regeln mit Gemeindegesang aus. Am Vorabend erzählte mir der Zelebrant, bei einer weihnachtlichen Messfeier habe die Organistin versucht, Weihnachtsklassiker solistisch darzubieten. Allein,

„…spätestens beim `O du fröhliche`, das für viele (mich auch) zu den Weihnachtstagen einfach dazu gehört, haben dann tatsächlich einzelne angefangen mitzusingen. …“

Ja, ja, dieses sizilianische Lied ist nicht weniger ordnungswidrig als das aus Österreich stammende „Stille Nacht“. Mein persönlicher Favorit ist „Zu Bethlehem geboren“. (Ich stelle gerade staunend fest, dass ich dazu noch nichts im Lautwert-Blog geschrieben habe. Ts, wird nachgeholt, ma pronto. 😉 )
Wahrscheinlich lag es an der frühen Morgenstunde, als ich die gerade zitierte E-Mail las, dass ich das falsche Weihnachtslied auf meinen Plan schrieb. Aber Stille Nacht lässt sich auch viel einfacher verfremden, ohne dass es seinen eigentlichen Charakter verliert. Tempo rausnehmen, schlecht zu singende Tonarten wählen, Passagen vertauschen, fertig ist die Corona-Version. Beim sizilianischen Volkslied könnten schneller Ordnungshüter auf den Plan gerufen werden, ohne dass die Mafia mitsänge. Die hält ja auch nix vom Singen, viel mehr vom Schweigen. Von der Om… mmpff.

Äh, bevor ich am 6. Januar Besuch von wortkargen Weisen mit metallenen Geschenken bekomme, überlass ich lieber der Orgel von St. Marien Lüneburg das Reden. Dieses wunderbare Instrument lässt sich weder von Verbrechern noch deren Gegenspielern einschüchtern. Und zum Schweigen bringen? Never. Schon gar nicht zu Weihnachten, diesem gern unterschätzten Revolutionsfest. Venceremos! Wir werden Corona überwinden. Mit Seiner Hilfe. Wenn es sein muss, in aller Stille.

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