Mit Augen und Füßen im Wald

Das ist kein richtiger Wald. – Mit dieser mehrfach geäußerten Feststellung verewigte sich mein Opa seligen Angedenkens in den Annalen unserer Migranten-Familie. Eine Würdigung der Werte, die ich ihm verdanke.

Mein Opa liebte den Sauerländer Wald. Als ich die heimatliche Region mit 16 widerwillig verließ, gab es anderes, was ich mehr vermisste. Zumal wir nach Oberbayern übersiedelten, wo die Natur nicht weniger Schätze bot als im Süden von NRW. Das sah mein Opa auch so. Gemeinsam mit meiner lange vor ihm verstorbenen Oma war er viele Jahre lang nach Bayern in den Urlaub gefahren. Ins Voralpenland, mit Blick auf Watzmann und Konsorten, in Ufernähe bayerischer Seen, mit unendlichen Spazier- und Wanderwegen direkt vor der Hotel-Tür. Aber als er zum ersten Mal seine einzige Tochter in Oberbayern besuchte und wir einen Waldspaziergang machten, mutmaßlich im Hangmaul bei Dorfen, fiel der oben zitierte Satz. „Das ist kein richtiger Wald.“

Obwohl mein Opa Hermann alles andere als ein frommer Zeitgenosse war, hatte er meiner Einschätzung nach ein sicheres Gespür für Nicht-Materielles. So manchen Satz, den er mir als Kind, Jugendlichem und schließlich als Studenten sagte, hat mich wahrscheinlich nachhaltig geprägt. Beispielsweise führe ich auf ihn meine besondere Wertschätzung für folgende Dinge zurück: Füße, Augen und Grünes.

Dass ich keine schönen Füße habe betont meine Nichte bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Blöd, dass ich auch in ihrer Gegenwart mindestens zwischenzeitlich barfuß bin. Zwar ziehe ich ausschließlich ihr zuliebe in gemeinsam genutzten Räumen Socken an, pfui bäh. Aber wenn wir als Nordableger der Steinhoff-Sippe uns zum Spaziergang fertig machen, kommt der kurze Augenblick, in dem meine blanken Geh-Organe in ihrer ganzen Pracht zu sehen sind und unausweichlich entfährt dem Kindermund das „Iiiieeeh! Deine Füße sind so hässlich!“
Ich habe schon ein paarmal versucht der (noch) Kleinen zu erklären, wie viel ihr Ur-Opa von Füßen hielt. „Achte gut auf deine Füße und sei ihnen dankbar. Sie müssen dich ein Leben lang tragen.“ Das hat damals gesessen, beziehungsweise ist das mein ureigener Standpunkt geworden. Ein Standpunkt, der sich bewegt ohne sich zu verändern. Schön paradox, genau wie ich es mag. Irgendwann wird meine Nichte hoffentlich beides verstehen, die Liebe zu Füßen ohne Ansehen der Gestalt und die Liebe zu scheinbaren Widersprüchen.

Beim nächsten Treffen, das ich in den nächsten Tagen erwarte, fange ich aber ersteinmal mit etwas anderem an, das ich von meinem Opa selig übernommen habe: Die Liebe zu Augenblicken im Wald.
Ich weiß, dass ich hier offene Türen einrenne. Ich erinnere mich an den allerersten Spaziergang, den wir Nord-Steinhoffs in Lüneburg absolvierten. Damals war noch niemand von uns hier wohnhaft und meine Nichte lag im Kinderwagen. Sie war ein meist sehr leises Baby, die Ruhe selbst. Ganz still aber hellwach war sie, als wir in den Lüneburger Liebesgrund kamen. Für Outsiders: Das ist ein wunderschöner Park am Rande der Altstadt.
Das Baby bestaunte die Baumkronen, die über seinem Kopf im Wind sangen und flüsterten. Ein Gesamtkunstwerk aus Farbe, Bewegung, Ton und Haut-Berührung, denn so ein Windhauch hat schon seine Wirkung auf ein Baby-Gesicht. Glaube ich jedenfalls.

Ein Babyface ist beziehungsweise hat meine Nichte nicht mehr. Aber ist immer noch ein Kind, das staunen kann und – Gott sei Dank, das meine ich wörtlich! – mit reichlich Phantasie begabt ist.
Mir hat man genau das früher oft nachgesagt, dass ich eine blühende Phantasie habe. Wenigstens meinem Vater ging das ab und zu auf die Nerven. Ich erinner mich zum Beispiel an einen Sonntagnachmittag, den unsere damals noch vierköpfige Familie wie üblich auf einem Tennisplatz zubrachte. Ich war das Schwarze Schaf, das einzige Familienmitglied, das mit Racket und Court nichts anzufangen wusste. Also musste ich mir die Zeit anders vertreiben und tat das meist mit Geschichten, die ich mir ausdachte. Das Umfeld der Anlage lud förmlich dazu ein. Da gab es ein ausgedehntes Waldstück inklusive Ruine und Wildbach. Was sind Geschichten wert, die man niemandem erzählt? Also, Papa, hör mal…
Tja, Vater werden ist nicht schwer, Kindern zuhörn dafür sehr. – Einmal klagte mein Papa einem Tennis-Freund sein Leid. „Thorsten hat viel zu viel Phantasie.“
Für mich unvergesslich die Antwort des so Angesprochenen: „Ich sage dir, zu viel Phantasie kann ein Kind gar nicht haben! Wir brauchen viel mehr davon.“ Amen, aber echt. Ich denke gern an diesen Mann, der wie mein Opa schon in die Ewigkeit hinübergegangen ist.

Bis zu diesem Übergang habe ich hoffentlich noch Zeit und ich freue mich erstmal auf den demnächst zu erwartenden Waldspaziergang mit der ganzen Familie samt Nichte. Hier als Preview der Plot, den ich ihr verklickern werde. Ich kam heute darauf, als ich das Foto oben aufnahm.

„Was für dich und mich ganz klein aussieht, das Mooskissen, ist eigentlich ein Riesen-Wald! Darin gibt es sogar so etwas wie Bären! Bärtierchen. Die sind so klein (ich führe zwei Fingerkuppen bis auf einen Millimeter zusammen). Sie haben acht Beine, sind pummelig, haben einen Rüssel, (leider) keine Ohren, aber dafür scharfe Krallen an ihren Füßchen.“

Ich bin mir vollkommen sicher, dass meine Nichte mir nicht glauben wird. Aber später zeige ich ihr Mikroskop-Filmaufnahmen von echten Bärtierchen und bin überzeugt: Wenn meine Nichte künftig satt grünes Moos oder ähnlich gestaltetes Pflanzenreich sieht, stellt sie sich vor, wie unzählige winzige Bären darin herumstreunern. Kopfkino vom feinsten, grüne Action ohne Abgase. Und guck mal, sind das nicht schöne Füße?

Bärtierchen

Das Bärtierchen Milnesium tardigradum
Bild: Schokraie E, Warnken U, Hotz-Wagenblatt A, Grohme MA, Hengherr S, et al. (2012), CC BY 2.5 https://creativecommons.org/licenses/by/2.5;, via Wikimedia Commons

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