Mogelkönige, das waren seinerzeit mein Bruder und ein unvergessener Nachbar. Sollte ich ihnen nacheifern?
Der Erfolg gab ihnen jedenfalls Recht. In einer launigen Viertelstunde am Gartenzaun vereinbarten die beiden Zeichen, mit denen sie sich beim Canasta ihre Kartenstände mitteilen konnten.
Einige Signale waren auch für die gegnerischen Duos verständlich. Wenn etwa Herr H. drei Finger über seinem Kopf spreizte, war mir klar, dass es hier nicht um Asse ging.
Als angehender Philologe mit osteuropäischen und semitischen Ambitionen war ich eigentlich eine Idealbesetzung als Code-Knacker. Kleines Problem: Ich kann nicht lügen und betrügen. Mein immerwährender Team-Kollege tat und tut sich ebenfalls schwer mit dieser schwarzseelig unseligen Kunst. Unsere seltenen Verzweiflungsakte waren Erfolge. Lacherfolge. Damals lernte ich, formvollendet und mit Würde zu scheitern.
Beim Verständnis fremder Signale scheiter ich selten. Manchmal sind meine Antennen allzu fein, dann führt gerne mal ein Stolperschritt zum nächsten. Aber was soll’s? Beil rein und weiter.
Diesen auf den ersten Blick martialischen Ausspruch sage ich mir vor, wenn etwas so richtig mit Schmackes vor die Wand gefahren ist.
Eigentlich zitiere ich damit aber nicht Ragnar den Wikinger, sondern den von mir hoch verehrten und leider vor kurzem in den einstweiligen Ruhestand gegangenen Kabarettisten Wilfried Schmickler. Der bezog sich mit dem Axtschlag-Motto auf weihnachtliche Fensterbeleuchtung zur Unzeit. Der Onkel macht(e) nur Spass. Auch ich habe erst einmal mit einer Beilklinge eine Wohnungsschnittstelle traktiert. Eine Tür. Und ich war nur der Assistent. Echt. 😉
Das war im russischsprachigen Raum, in Odessa. Der nach Hause kommende Hauswirt hatte mich gerufen und ich eilte spontan ins Treppenhaus. Anders als in allen meinen eigenen Wohnungen war die Tür nicht von innen zugeschlossen. Mit diesem Trick, den ich seit 1988 immer und ohne Ausnahme anwende und der schon manchen Gast irritierte, habe ich es geschafft, noch nie einen Schlosser rufen zu müssen. Schlossermeister sind teuer, die key-Profis.
In Odessa, in der ul. Tschizhikova, wie sie damals hieß, wäre der Schlüsseldienst vielleicht nicht so gierig gewesen. Aber Hauswirt Valerij, ein Original, ließ sich auf keine zeitraubenden Umwege ein, sondern klingelte bei der Nachbarin und lieh sich ihre Axt aus. Er senkte die Klinge in den Türspalt auf Höhe des Schlosses und gab mir Anweisung, mit meinem ganzen Gewicht den Spalt breiter zu machen, während er die Klinge drehte. – Keine geheimen Zeichen, nur eine klare Ansage. In deutlichst ausgesprochenem Russisch, wie es Valerij uns Ausländern gegenüber immer gebrauchte.
Wer des Russischen nicht mächtig ist, soll hier wissen: Russisch ist nicht nur eine wunderschöne Sprache, sie richtet sich bei der Aussprache auch meistens nach der Schrift. Das russische kyrillische Alphabet hat 33 Zeichen, also vier mehr als das in Deutschland gebräuchliche – die drei Umlaute mitgerechnet, die ß-Ligatur nicht, weil es eben eine feste Bindung zweier Buchstaben ist, fachsprachlich: eine Ligatur. Im ukrainischen Alphabet gibt es noch einen 34. Buchstaben, das ï (i mit zwei Punkten).
Als ich anfing, Russisch zu lernen, machte mir die Gewöhnung an ein anderes Alphabet kein Kopfzerbrechen. Ich hatte mich da längst mit Fragen beschäftigt, bei denen Schriftzeichen das geringste aller Probleme sind.
Auftritt Thorsten als Proto-Hermes. Hermes Phettberg ist ein österreichischer Aktionskünstler und Schriftsteller, dessen Lösung des Problems geschlechterneutraler Sprache mittlerweile viele Freundys gefunden hat. Mich nicht, ich bin kein Freundy. Zumal ich nicht weiß, wie Pronomina (im vorausgegangenen Satz das „kein“) nach Phettberg behandelt werden sollen. Vielleicht füllt ja eine*r von Euch diese Bildungslücke.
Meine Lösungsidee von 1989: Führen wir eine neue Endung ein. So weit, so phettberg. Ich hatte allerdings nicht das „y“ beziehungsweise „ys“ im Auge, sondern das gute alte „ei“. Im Neuhochdeutschen wie „aj“ gesprochen, im (rekonstruierten) Mittelhochdeutschen aber wie „ej“. Wegen des „j“ statt „i“ hätte ich mit mir reden lassen. Revolutionär, wie ich damals drauf war, wollte ich sowieso eine am Klang orientierte (fachsprachlich: phonetische) Schreibung durchsetzen. Wenn ich denn König von D… okay, Ihr wisst Bescheid. 😉
Oder nicht? Rio Reiser kannte ich damals nicht. Und ich bin auch kein Fan von ihm geworden. Aber dass der Mann aus Berlin ein Künstler ersten Ranges war, stelle ich nicht in Frage. Sein Zeichensystem ist mir nicht fremd, das Bezeichnete gelegentlich dafür schon.
Vielleicht eine Frage der Lebenszeit, der Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Ich bin zutiefst dankbar dafür, dass ich mich mit dem Teller nicht zufrieden gebe, auf dessen Mitte mich das Schicksal gesetzt hat. Ich strebe immer über den Tellerrand hinaus, da kann und will ich nichts gegen machen.
In der Kirchengemeinde, der ich mich nach wie vor zu Hause fühle, auch wenn ich in diesem nicht mehr so ganz jungen Jahr noch nicht wieder hin kam, gab es vor Ausbruch der Pandemie eine inoffizielle Hymne. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“. Zur letzten vorösterlichen Bußzeit brachte die Bischofskonferenz eine neue Fassung heraus. Als Hungertuch-Lied. Als Calypso. – Tja. Abgesehen davon, dass Gemeindegesang sowieso nicht erlaubt war, habe ich diese Fassung nur auf meinem Klavier gehört. Und natürlich im Netz. Als Zeichen der (pandemischen) Zeit taugte die schwungvolle Mucke nicht. Ich dachte schon beim ersten Hören: „Wessen Gefühle drückt dieser Calypso-Sound aus?“ Die Empfindungen einer zum vermummten Schweigen verdammten Gemeinde? Die ihre Versammlungen – aus guten Gründen! – klein halten muss? Damit die Abstände nicht zu eng werden. Okay, eine zu null für den Liedtext: Du stellst meine Füße auf weiten Raum…
So sehr ich Ironie (die echte!) und Mehrdeutigkeit liebe, es gibt Umstände, in denen ich mich nach unmissverständlichen Signalen sehne. So, wie sie unser Organismus abliefert. Wenn wir ihn lassen und dann auch noch darauf achten.
Im angebrochenen Frühling werden manche dieser Zeichen von innen wieder stärker. Nicht umsonst gibt es den Brauch des „Tanz in den Mai“. Bis jetzt habe ich mich immer erfolgreich um die Teilnahme gedrückt. Die Corona-Einschränkungen spielen dieser schlechten Gewohnheit leider in die Karten. Drei Finger über dem Kopf reloaded, wa? Aber womöglich wird ja noch etwas aus der Calypso, die im März zur Unzeit kam. Wie sagte noch Schmickler: Beil rein und weiter. Klar, statt der Axt macht nur die Nadel das Virus fertig. Aber den Fuß auf weiten Raum setzen, ist ein guter erster Schritt. Ins Unbekannte mit seinen verheißungsvollen Zeichen.
Ich schließe mich dem „wunderbar“ meines Vorredners an.
Und wünsche diesen Gedanken Menschen, die sich ein paar Minuten Ruhe gönnen.
Wunderbar, Thorsten! „Beil rein und immer weiter!“