Orgel, Luft und Freiheit

Du hast geschwänzt. – Musste ich mir am Samstagabend von einem Juristen sagen lassen. Hab ich nicht! Nicht, was den Tag der Orgel angeht.

Ich bin nicht gerade ein Salonlöwe. Eher habe ich etwas von einer Kirchenmaus. In mehrfacher Hinsicht, einmal abgesehen von den Abmessungen. Das war schon immer so und wird mutmaßlich auch für den Rest meines Lebens gelten.
Trotzdem, von handverlesenen Freundschaften halte ich sehr viel und versetze sie bei gemeinsamen Aktivitäten nur sehr ungern.

Von den knapp neun Jahren, die ich jetzt schon in meiner Nach-wie-Vor-Traumstadt lebe, stehe ich mit der 30er-Gruppe von St. Christophorus in freundschaftlicher und einbindender Beziehung. Einmal im Monat treffen wir uns zu einer gemeinsamen Aktivität. Fast nie in voller Besetzung, unsere Lebenskontexte zeigen eben doch viele Unterschiede. Und vor der Pandemie musste ich so manches Mal absagen, weil mich meine (prekäre) Job-Situation dazu zwang. Besagte Lage nimmt jetzt leider wieder Fahrt auf, ich habe alle Hände voll zu tun, mich vor neuerlicher Vereinnahmung zu schützen. Dass ich dem jüngsten 30er-Ausflug, einem fröhlichen Schippern auf dem Müggelsee, fern bleiben musste, hatte aber einen anderen Grund.

Der in gewisser Weise auch einen Berliner See betrifft – den Weißen See. Dieses kleine Gewässer, das dem umgebenden Stadtteil den Namen gibt, also Weißensee, liegt im Nordosten der Stadt, im Bezirk Pankow. Bekanntlich wollte Udo Lindenberg hierher einen Sonderzug nehmen, um Erich Honecker einen Besuch abzustatten. Ich komme normalerweise über S-Bahn und wahlweise Tram oder zu Fuß an den Weißen See. Um dann im Alexianer St. Joseph-Krankenhaus Weißensee durch den Haupteingang ins Innere des Komplexes einzutreten, der unter anderem einer renommierten Psychiatrischen Klinik (mit weiteren Schwerpunkten) Raum bietet. Zu den weiteren Einrichtungen gehört eine Krankenhauskapelle von beeindruckenden Ausmaßen. Man kann ohne Zweifel von einer ausgewachsenen (Pfarr-) Kirche sprechen. Die zur Kirche gehörende Klais-Orgel ist eines meiner beiden Berliner Lieblingsinstrumente und ich bin unfassbar froh, hier wieder wirken zu dürfen. Und zwar regelmäßig.

Wo gehobelt wird, fallen Späne. Und wo Orgelpedale zu treten sind, müssen Bootsfahrten leider ausfallen. Erst recht am Samstag, dem 11. September 2021.

Uff, elfter September. Da war ja was. Etwas, das mit „entsetzlich“ scharf untertrieben beschrieben ist.

Der 11.9.2001 war ein Dienstag. Ich kann mich genau an den Moment erinnern, als ich die ersten Bilder von den einstürzenden Türmen sah. Das war in einer Station der U6 in München, ich war auf dem Heimweg von der Arbeit und wie in U-Bahn-Stationen üblich liefen die Bilder ohne Ton über die Projektionsflächen. Ich dachte wirklich, einen Trailer für einen Katastrophenfilm zu sehen. – Damals lebte ich ohne Fernseher, nutzte ausschließlich das Radio, um Tagesnachrichten zu verfolgen. Bei den Abendnachrichten des Deutschlandfunks (DLF) bekam ich dann meinen Info-Abriss und vermochte erstmal nicht zu fassen, was ich da hörte.

So genau ich mich an meine damaligen Befindlichkeiten erinnere, so wenig Einfluss möchte ich meinen Erinnerungen auf das Hier und Heute geben. In diesem Kontext, den ich ebenso wenig leugnen wie beeinflussen kann, habe ich nichts zu sagen, basta. (Es gibt noch viel mehr Fragen, bei denen ich mich raus zu halten gelernt habe oder wo das noch zu üben ist.) Deswegen das hier auch nur kurz als Begründung, warum ich im 11. September 2021 keinen persönlichen Gedenk-Anlass sehe.

Allerdings frage ich mich schon, warum die Stadt Berlin ihren „Tag des offenen Denkmals“ ausgerechnet auf diesen Termin gelegt hat. Dass der traditionell am 12. September gefeierte „Tag der Orgel“ im „Jahr der Orgel“ auf das Wochenende fällt, das mit dem 11.9. beginnt – dumm gelaufen. Aber mein Orgeldienst in der Krankenhauskirche Weißensee wäre auch ohne Festtag auf den Samstag mit dem schwierigen Datum gefallen.

Lange vor der Pandemie hatte ich einmal einen Gast mit im Gottesdienst, der mich aus einem ganz anderen Zusammenhang kannte und kennt. Als Vorturner mit Smartphone und PC, als Forschungsreisenden in der Welt von Platinenrechnern (gut) und Abo-Fallen (böse).
Damals fanden die samstäglichen Gottesdienste noch zu früher Stunde statt, um 9 Uhr. Insofern wusste ich es zu schätzen, dass T.J. aus seinem ziemlich weit entfernt liegenden Zuhause an einem Samstagmorgen hierher gekommen war. Zumal er mit Religion im allgemeinen und katholischer Kirche im besonderen nichts am Hut hat. So musste ich auch schmunzeln, als er nach dem Gottesdienst zu mir sagte: „Ich glaube, Sie haben zu laut gespielt. Ich habe von hinten die Leute vorne nicht gehört.“ Na, ist das auch ein Insider? Aber sicher doch. 😀

Wer noch nie in einem Gottesdienst war – vor der Pandemie wohlgemerkt – oder dabei gaaaanz hinten saß, der mag sich über das gerade beschriebene akustische Phänomen wundern. Oder eben auch nicht.
Ich wunder mich über etwas ganz Anderes: Die unerschöpfliche Geduld vieler Glaubensgeschwister. Oder ist es nur Leidensfähigkeit?
Ich bin der Letzte, der zur Rebellion gegen jede Vor- oder Rücksicht aufruft. Ich bin vollständig geimpft, würde mir auch wieder die Nadel geben lassen und wenn es demnächst tatsächlich eine für mich geben sollte: Hau rein! Gleichzeitig verstehe ich (im ursprünglichen Sinne, Germanisten sollten wissen, was gemeint ist) jede einzelne Person, die sich nach persönlicher Abwägung gegen eine medizinische Immunisierung entscheidet. Die Debatten über gesellschaftlichen Impf-Druck, dessen Sinn oder Unsinn, kommentiere ich hier nicht. Ich möchte heute Nacht schlafen und habe vorher auch noch anderes zu tun. Etwas, das sein Revival tatsächlich einer Pandemie-Maßnahme verdankt. Denn ohne Pandemie keine kostenlos verfügbare Video-Konferenz-Systeme wie Jitsi. Und ohne Jitsi wäre ich nicht auf die Idee gekommen, einen 20 Jahre im Merlin-Schlaf liegenden Lesekreis wiederzubeleben. Wir tragen übrigens keine Masken.

Bei jedem, wirklich jedem Gottesdienst, egal in welcher Kirche, trage ich dem anwesenden Herrn eine Bitte vor:

Bitte befrei uns von der Angst, befrei uns von dem Zwang um des Zwanges willen, befrei uns davon, uns immer nur zurückhalten zu müssen.
Amen!

Die Formulierung ist frei veränderbar. Aber in der Sache bleibe ich hart. Ich glaube, der Herr weiß das zu schätzen. Wer mitbeten möchte, ist herzlich eingeladen. – Einladung ist mein Stichwort. Wie gerne wäre ich heute einer der vielen Einladungen gefolgt, die Aktionen rund um die Königin der Instrumente zum Inhalt hatten. Zum Beispiel die garantiert klangbeseelte Besichtigung der barocken Amalienorgel in Berlin Karlshorst. Aber es ist so: Wenn ich die FFP2-Maske und meine Brille trage, sehe ich durch Nebel und höre schlecht, weil meine Ohren elefantös nach vorne gezogen werden. Setze ich die Brille ab, sehe ich noch schlechter und verwandel mich endgültig in Dumbo. Nur dass beim fliegenden Elefanten die Ohrenden nicht direkt über dem Hörkanal zu liegen kommen. Törööö… (äh, Moment, das ist ein anderer Dickhäuter.)

Maskierte Besichtigungstermine mache ich konsequent nicht mit, ich habe einfach nichts davon und andere ebensowenig. Aber am auf das Orgelwochenende folgenden Montag mache ich womöglich eine Extrem-Ausnahme: Kirchenmusik-Praxis im Corona-Zorro-Kostüm. Zur Erinnerung: Don Diego de la Vega verdeckte seinerzeit die Augen-Partie, nahm aber kein (Filter-)Blatt vor Mund und Nase. Na, BVG-Kontrolleure würden ihn heute mit raus nehmen und die Geldbeutel leeren. „Packen’se jefälligst die Heepe weg!“
Einen Degen habe ich nicht, hatte als Achtjähriger mal einen in der Hand, hat mir gereicht. Aber selbst wenn ich einen hätte, ließe ich ihn am besagten Montag den Dreizehnten zu Hause. Im Laden ist das nicht gern gesehen. Obwohl (oder weil?) die von mir musikalisch Versorgten in ihrer Jugend mit scharfen Waffen Bekanntschaft machen mussten. Mir wurde ein Liedblatt ausgehändigt, so dass ich davon ausgehe, dass im Fest-Gottesdienst im Bischof Ketteler-Haus gesungen werden darf, anders als bei den samstäglichen Messfeiern in der Krankenhauskirche. Samstags darf nur ich den Mund aufmachen. Ohne Maske, weil es auf der Orgelempore kein Mikro gibt und ich es maskiert auch gleich bleiben lassen könnte. Mit Dämpfer läuft es nicht.

Aber wenn am Montag die Senioren-Gemeinde singt, und sei es mit Maske? Dann hält der Kantor den Mund – bedeckt. Schwänzen werde ich jedenfalls nicht. Danach geht’s nach Karlshorst. Nicht zur Amalienorgel, sondern zum weltlichen Dienst bei Dr. J. Noch später zur Chorprobe, wo ich mit etwas Glück meinen juristisch versierten Ankläger vom Samstagabend wieder treffe. Dann plädiere ich nachträglich auf Freispruch! Unverhüllten Mundes. Wie es in einem Gotteshaus sein soll.

2 Gedanken zu „Orgel, Luft und Freiheit

  1. Gelesen. Und ich bleibe dabei: Das Führungspersonal unserer Kirche schweigt und wir können auch nicht alle Gotteshäuser nach Dänemark verlegen, um mal endlich wieder laut zu sagen und zu singen, was wir meinen. Denn wir haben viel zu sagen!

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