Gefährlich leben in Berlin

Öfter, als wir glauben, entscheidet ein Augenblick über Leben und Tod. Eine Binsenweisheit?

Wenn ja, dann eine, die nur selten ins Bewusstsein tritt. Dann aber um so eindrücklicher.
Ich bin bekennender Flaneur. Sicher nicht vom Format eines Harry Rowohlt (1945 – 2015), aber ich tue, was ich kann. Zum Beispiel „latschen”. In Barfußschuhen, mit denen ich dem harten Berliner Pflaster sehr nahe komme.

In den letzten Tagen ereigneten sich in meiner Wahlheimat Berlin mehrere tragische Vorkommnisse, die in den Medien Niederschlag fanden: Messerstechereien, Vermissten-Suchaktionen und – was mich besonders mitnahm – ein Verkehrsunfall mit vier Toten, von denen einer ein Kleinkind war.

Für mich war der in eine Gruppe von Passanten fahrende SUV deswegen so erschreckend, weil sich dieses Unglück in einem Teil Berlins ereignete, von dem ich wusste, dass ich am folgenden Tag dort sein würde.
Ich habe noch nie zu den Menschen gehört, die Schaulust üben. Ganz im Gegenteil, ich meide das Hingucken. Was übrigens in meinem Fall kein Verdienst ist, sondern ein Mangel. Ich weiß nämlich aus leidvoller Erfahrung, dass ich als Zeuge von Unfällen erstarre, wie gelähmt bin, absolut nicht helfen kann. Und womöglich noch schlimmer: Ich lege keinen Wert darauf, in eine Situation zu geraten, in der sich zeigt, dass die Schockstarre ausbleibt.

Vor vielen Jahren, ich lebte noch in Regensburg, sah ich einmal einen ziemlich dramatischen Unfall aus nächster Nähe mit an.
Ein Radfahrer bretterte ohne Helm den Galgenberg hinab und geriet mutmaßlich mit dem Vorderreifen in ein Schlagloch. Jedenfalls flog der Mann im hohen Bogen über seinen Lenker und landete, Kopf voraus, auf dem Asphalt.

Dass der Mann eine Zeit lang bewusstlos liegenblieb, am Scheitel eine große und stark blutende Wunde, war im Rückblick so zu erwarten. Und ich hatte natürlich wieder meine Schockstarre.
In dem Moment, wo der Mann taumelnd aufstand, hatte ich sie aber überwunden. Nun hat mir der Anblick von Blut noch nie etwas ausgemacht, ich kann sehr gut damit umgehen. Ekel vor Wunden ist mir fremd, eine unverdiente Gabe. Deshalb war es für mich auch keine Frage, so schnell wie möglich zu dem Mann zu laufen und ihn anzusprechen. Die letzte Erste Hilfe-Schulung lag damals locker zwanzig Jahre zurück, aber eine Abbindung hätte ich vielleicht sogar noch hinbekommen. Den Kopf abzubinden ist allerdings keine gute Idee. ( 😉 – so viel schwarzer Humor muss erlaubt sein.)

Der Mann war zwar benommen, wusste aber, dass er ärztliche Hilfe brauchte und sprach das aus. Damals gab es noch keine Mobiltelefone, dafür hilfsbereite Autofahrer am laufenden Meter. Zwei Wagen hielten an und beide Fahrer waren gerne bereit, den Verletzten ins nächstgelegene Krankenhaus zu bringen. Ich hatte nie einen eigenen fahrbaren Untersatz, aber meine Wohnung war nahe. Ich bot dem Verletzten daher an, sein Fahrrad bei mir unterzustellen und gab ihm Adresse samt Telefonnummer.

Er kam noch am Abend des selben Tages zu mir und nötigte mir einen Zehnmarkschein auf. „Das brauchen Sie aber wirklich nicht, das bisschen Hilfe ist doch selbstverständlich“ sagte ich aus ehrlicher Überzeugung. Der Mann, der sich laut ärztlichem Befund nur eine leichte Gehirnerschütterung geholt hatte, schüttelte vorsichtig aber entschieden seinen Kopf. „Nein, das ist nicht selbstverständlich.”
Ist es doch! Sage ich heute. Aber einen von Herzen kommenden Dank darf man nicht ablehnen, egal wie er sich ausdrückt. Ich weiß nicht mehr, was ich mit dem Zehnmarkschein gemacht habe, heute wüsste ich, an wen ich ihn weitergäbe.

An dieses Erlebnis aus Studi-Zeiten dachte ich aber nicht, als ich am gestrigen Samstag von Weißensee über Prenzlauer Berg nach Mitte kam. Ich dachte spontan an einen Münchener Freund, der wenigstens zum fraglichen Zeitpunkt ein begeisterter Motorradfahrer war.
Wir hatten einen Besprechungstermin mit einem gemeinsamen Auftraggeber. Ich wunderte mich, dass der sonst immer überpünktliche G. auf sich warten ließ, der Auftraggeber war schon da und ich eben auch, ich war aber eigentlich nur der untergeordnete Projektbeteiligte.

Da kam G. herein, noch in Biker-Kluft und offensichtlich um Fassung ringend. Was war passiert? Hier die Ultrakurzfassung.
„Wäre ich ein paar Sekunden früher an der Stelle gewesen”, brachte G. mühsam heraus, „hätte ich nicht mehr bremsen können und wäre jetzt mausetot.”

In seinem zu Recht berühmten Film „Lola rennt” zeigt Tom Tykwer in eindrucksvollen schnell durchlaufenden Foto-Serien mehrere mögliche Lebensverläufe, die sich aus minimalen Unterschieden in einer alltäglichen Begebenheit ergeben. Tykwers Film erschien 1995, der „Schmetterlings-Effekt“, der im Film vielleicht veranschaulicht werden sollte, beschrieb 1972 der Meteorologe Edward N. Lorenz bei einem Vortrag. Lorenz ging es konkret um Wirkungskomplexe auf seinem Spezialgebiet, dem Wetter, und ursprünglich war laut Wikipedia von einem Vogelflügelschlag die Rede. – Dass aber auch im nicht meteorologisch bestimmten Lebensalltag vieles mit vielem verwoben ist, ohne dass die Fäden sich entwirren ließen, nun, da haben wir sie, die eingangs genannte Binsenweisheit. Binsen sind übrigens ein Flecht-Material.

Das Mitte-Flanieren am Samstag verlief dramenfrei. Gut, emotional war einiges los bei mir, aber das hatte nichts Furchteinflößendes. Wobei… Im Rückblick fällt mir ein, dass ich ein kindliches Drama miterlebte.
Vor einem Café, das sich zu einem Lieblingslokal mausert (keine Angst, Sylke, dein Café „Zur Alten Zicke“ trägt den Titel Lieblingscafé Mitte weiter 🙂 ), fuhr die kleine N. mit einem Wägelchen eine niedliche Orang Utan-Puppe spazieren. Es kam, wie es kommen musste, das Mädchen stolperte, fiel hin und der Affe flog auf den Bürgersteig. Wie alle Kinder, die ich kenne, fiel Klein-N. gekonnt, rappelte sich wieder auf und trug im übrigen keine Blessuren davon. So entfiel sogar das übliche Sich-trösten-lassen. Wow, ich war beeindruckt.

Allerdings zeigte N-chen keinerlei Mitleid mit dem armen Orang Utan, im Gegenteil. Er musste ein paar Tritte erdulden, bevor er ziemlich rau in den offenen Verschlag geworfen wurde. Erst als er da nicht sofort richtig zu liegen kam, zeigte die Affenwärterin in spe etwas Unmut. Meine Nichte, die schon größer ist, würde aus dieser Affen-Rebellion ein bühnenreifes Drama machen. Auch bei ihr dürfte der Orang Utan die Schurkenrolle bekommen. Bei Unerfreulichem ist es einfach schön, wenn es einen Verantwortung übernehmenden Schurken gibt.

Aber nicht immer mag sich die Realität kindlichen Wünschen beugen. Auf einen neuerlichen Beleg dafür hatte ich nur einen knappen Tag zu warten.

Heute, am Sonntag, kam ich von einem Orgeleinsatz aus Rixdorf zurück. Dieser liebgewordene Weg führt über einen kurzen Abschnitt der Sonnenallee. Wer die Sonnenallee kennt, weiß, dass sie ästhetisch nicht gerade zu den Schätzen der Bundeshauptstadt gehört. Deswegen biege ich als Flaneur gerne so bald wie möglich in’s Grüne ab. Tagsüber ist der kleine Schulenburgpark sehr reizvoll.

Ich nahm also den ersten Zugang zum Park. Zur Linken liegt dann ein Spielplatz, der durch ein Metalltörchen allzu vorwitzige Kinder davon abhält, den geschützten Platz unbemerkt zu verlassen und dann auf die nahe Sonnenallee mit ihren schnell fahrenden Autos zuzulaufen. Aber genau das passierte jetzt. Ein etwa dreijähriges Kind öffnete das Törchen, lief auf mich zu, lachte kurz stehenbleibend und – rannte auf die Sonnenallee zu. Schockstarre bei mir.
Aber zum Glück nicht lange. Ich hörte die Mutter, die ihr davoneilendes Kind sah und seinen Namen rief. Es half nichts, das Kind rannte weiter und wurde immer schneller. Ich war schon auf dem Weg, so schnell, wie ich konnte. Aber verdammt, so ein Zwerg ist rasend schnell!

Exakt am Bordstein hätte ich das Kind erwischt, das wäre allerdings eine Gewalterfahrung geworden, denn ich hätte es buchstäblich am Kragen packen müssen. Die Mutter, die ihr Kind dreimal verzweifelt gerufen hatte, überholte mich plötzlich. Eine Gnade der Natur, dass wir im Notfall übermenschliche, nicht übernatürliche (!), Fähigkeiten haben.

Obwohl die Mutter ihr Kind selbst gerettet hatte, sagte sie zu mir ein mich in den Grundfesten erschütterndes „Danke“. Dann brach sie in Weinen aus, ihr Kind fest umklammernd, und als sie wieder sprechen konnte, redete sie auf das Kind ein. Ob das Kleine wohl verstand, dass über sein Leben gerade Augenblicks-Ereignisse entschieden hatten? – Wäre ich nicht just in den Sekunden auf den Parkweg gekommen, hätte es nicht kurz angehalten und wäre wahrscheinlich stramm durchgelaufen. Die Mutter hätte dann noch schneller sein müssen, außer ihr und mir waren zu dem Zeitpunkt keine Passanten in der Nähe. Nur fahrende Autos. Nicht auszudenken. Aber leider passiert es an anderer Stelle. Und irgendwann vielleicht auch bei einem selbst.

Gott beschütze Euch alle. Ob Ihr an IHN glaubt oder nicht.

Wenn es dich oder mich oder einen geliebten Menschen trifft, am Ende tut es das sicher, finden Gläubige leichter Trost in der Hoffnung, dass wir nicht tiefer fallen können, als in Gottes Hand.

So sagt es ein Kirchenlied, das der evangelische Pastor und Kirchenlied-Dichter Arno Pötzsch 1941 getextet hat und von dem es mehrere Vertonungen gibt. Eine musikalische Interpretation, die ich besonders schön finde, gibt es auf YouTube, der Welt geschenkt von der katholischen Gemeinde St. Magnus in Bad Schussenried. Lasst es euch gefallen. Und ich versuche, eine eigene Version nachzureichen. <3 (love)

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