Landflucht rückwärts?

Stadtluft macht frei, hieß es einst. Und alle die konnten machten sich buchstäblich vom Acker. Wird es bald wieder eng auf dem flachen Land?

„Ich werde ganz bestimmt nicht in der Großstadt enden“ meinte seinerzeit mein bester Freund zu Studienzeiten. Mit Großstadt meinte er mutmaßlich Regensburg, denn dort lebten wir. Die schöne alte Stadt an der Donau strebte den Großstadt-Status an. Bei fast Hunderttausend Einwohnern, warum nicht?

Unter manchem Straßenbelag schlummerten Straßenbahnschienen und die neue Rathaus-Mannschaft hatte Großes mit Regensburg vor. Boomtown sollte es werden. Und wenigstens strichweise gelang die Umstellung. Aber da war ich schon weg, abgezogen nach Trier. Wo man gar nicht daran dachte, den Moselkessel zum Kochen zu bringen.

Jetzt, zwanzig Jahre später, lebe ich in meiner Traumstadt Berlin, im südlichen Neukölln, um genau zu sein. Nebenan in Kreuzberg tobt der „Karneval der Kulturen“. Eine Bekannte, die normalerweise bekennende Kreuzbergerin ist, flehte vor einigen Tagen um Asyl. Buntes Leben? Immer her damit. Aber Lustkrampf und Boxenlärm? Das braucht kein Mensch. Jedenfalls nicht, wenn er oder sie gesund bleiben will.

In einem ebenso schönen wie meiner Meinung nach bewusst provokanten SZ-Artikel hat Charlotte Roche zur dauerhaften Flucht aus den Städten aufgerufen. Frau Roche sei das neue Glück auf dem Lande gegönnt. Aber ist das wirklich etwas für alle? Für alle auf einmal?
Wie beim 100%-Veganismus habe ich da so meine Zweifel. Wenn jeder seine Lebensmittel vollständig autonom selbst anbaut, dabei auf jede Tierhaltung verzichtet (ja, auch auf den Bello, den alten Carnivoren, wuff) – dann wird es erstens ziemlich eng auf dem vormals weiten Land. Und das kulturelle Leben, das Charlotte Roche an Netflix und guter Ausflugsplanung festmacht, gibt es auch nur, wenn genug „Dumme“ eine entsprechende Infrastruktur in Beton-Country aufrechthalten. Im ländlichen Raum haben es Kinos, Kneipen und Bühnen schwer. Da kann in Regensburg so mancher Lichtspielhaus-Betreiber und Kulturkneipen-Wirt ein garstig Lied von singen.

Also alle da bleiben, wo sie gerade sind? Mir fällt da spontan ein alter Leitsatz der Benediktiner ein: die Stabilitas loci. Zu Deutsch: Die Bestehenstreue zum Ort, respektive zur Lebensweise.
Benedikt von Nursia, der Ordensgründer aus dem 5./6. Jahrhundert, wollte mutmaßlich nicht die komplette Menschheit oder auch nur alle Mittelmeer-Anrainer mit seiner Regel beglücken. Nicht jeder ist zum Mönch geboren. Wäre es so und würden sich alle hundertprozentig an die Regula Benedicti halten, wäre Italien heute menschenleer. Beziehungsweise gäbe es dort keine christlichen Familien, denn – Mönche als Familienväter? Eine Fehlbesetzung.

Ich will Charlotte Roche gerne zu Gute halten, dass sie wahrscheinlich weder Bindung an St. Benedikt, noch an christliches Gemeindeleben hat. (Vielleicht tue ich ihr damit Unrecht, wer weiß?)
Kirche funktioniert nach meiner eigenen Erfahrung da besser, wo viele Menschen zusammenkommen, sei es auch ohne rechte Lust am bloßen Beisammensein. Denn inmitten der zufälligen Menschenansammlungen bietet eine gewollte Zusammenkunft einen besonderen Reiz. Das muss nicht notwendigerweise ein kirchlicher Anlass sein! Ein musikalischer Flashmob, wie er gerne zur Adventszeit (!) auf Flughäfen oder in Shopping-Malls einberufen wird, hat auch etwas. Stellt euch den Kölner Weihnachts-Flashmob 2016 mal auf einem Dorfplatz vor.
Ok, das geht im Prinzip. Es kann sogar reizvoll sein, ich habe mal an einem Orchester-Flashmob mitgewirkt. Hm, das war anno 1987. Da gab es noch keinen Ausdruck dafür, oder?

Unser Musikschullehrer Maximilian Fandrey hatte die Idee. Nach der Generalprobe zu einer Rundfunk-Aufzeichnung hatten wir noch etwas Zeit und kamen an einem Samstagabend an einer katholischen Dorfkirche vorbei. Als amtierender Dorforganist von Schwindegg wurde ich zur fremden Kirchentür vorgeschickt um zu erlauschen, wie lange der Gottesdienst noch ungefähr dauern würde. Ich hörte das Agnus Dei und wusste: In etwa 15 bis 20 Minuten kommen die Leute raus.
Ich sagte das Max und wir bauten unsere Notenständer auf dem kleinen Kirchplatz auf. Wir waren ein reines Streicherensemble und den meisten von uns machte es keine Schwierigkeiten, im Stehen zu spielen. Nur der Cellist meckerte ein bisschen über den spitzen Zaunpfahl, auf dem er Platz nehmen musste. 😀 Es wurde eine tolle Erfahrung. Die Gottesdienstbesucher waren gerührt und begeistert von dem unerwarteten Platzkonzert und warfen wohlklingende Münzen in den offenen Geigenkasten, den unser Dirigent hinter sich platziert hatte.

Könnte man eine solche Aktion heute noch bringen? Ich meine, auf demselben Kirchhof. Oder in einem anderen Dorf. Wie schnell würde irgendjemand die Polizei rufen, weil „der Lärm“ stört? Ich stelle hier mal die steile These auf, dass in kleineren Städten und Orten schneller jemand die 110 wählt als in weiten Teilen Berlins. Wobei diese weiten Teile enger werden. Aber trotzdem: Noch macht Berlins Stadtluft frei. Berlin is‘ kehn Dorf, wa? Was denkt Ihr? – Ich freue mich auf eure Kommentare.

3 Gedanken zu „Landflucht rückwärts?

  1. Vielen Stadtflüchtern bleibt keine andere Wahl. Die Innenstädte werden trotz aller Jammerei viele Ureinwohner verlieren, weil die Häuser und Wohnungen nicht mehr bezahlbar sind. Die ländlichen Speckgürtel ziehen immer weitere Kreise und auch dort gibt es ausreichend gierige Grundstücksbesitzer und Investoren, die die Situation der Suchenden ausnutzen.
    Ein Beispiel zeigte ein BR-TV-Bericht, der die östlich von München liegende Kleinstadt Dorfen vorstellte.

    Koste es was es wolle! – Für viele Menschen bedeuten diese fünf Wörter Schweißperlen und für wenige Abzocker Einnahmen, deren Möglichkeiten vom Himmel fallen bzw. über die Autobahn anrollen.

    Ich persönlich sehe wenig Möglichkeiten die Situation zu ändern. Der Garten Eden liegt jedenfalls nicht im Speckgürtel von München, Hamburg, Berlin und immer mehr Kleinstädten.

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