Die Frau aus dem Volke

Wie können wir als Menschen der Moderne, als Bürgerinnen und Bürger eines demokratischen Landes, einer Königin begegnen? In der Gedenkkirche Regina Martyrum fand ich mehr als nur eine Antwort.

Ich erinnere mich an einen Satz aus einer musikwissenschaftlichen Arbeit. Sie war Mitte des 20. Jahrhunderts geschrieben worden und hatte alte Marienlieder zum Thema. Der defintiv nicht atheistische Wissenschaftler schwelgte im Oevre eines bei Laien vollkommen unbekannten Motetten-Komponisten. Der habe, so der Wissenschaftler, „der Gottesmutter einen reichen musikalischen Strauß gebunden”.
Den Namen des Autors und des von ihm gepriesenen Komponisten habe ich vergessen. Das Bild vom musikalischen Blumenstrauß nicht. Ein Stück weit ist das bestimmt dem Fakt geschuldet, dass ich eine heftige Abneigung gegen Melodiensträuße, sogenannte Potpourris, habe. Inzwischen weiß ich auch, warum. Wortwörtlich übersetzt bedeutet „potpourri“ nichts anderes als „verfaulter Topf“. So hieß laut Wikipedia ein französischer Eintopf. – Ein musikalisches Restessen für Maria, na danke schön.

Das liefe zugegebenermaßen dem vollkommen entgegen, was Dr. X in seiner Abhandlung eigentlich sagen wollte.
Mir läuft öfters eine gigantische Laus über die Leber, wenn ich bestimmte Menschen von der Himmelskönigin reden höre. Oft wabert da eine unterschwellige Sehnsucht nach allerfrommsten Monarchen von Gottes Gnaden. Sorry, liebe orthodoxe Schwestern und Brüder, bei Euch habe ich diesen Wunsch schon einmal nicht als diffuses Verlangen, sondern als (ab-)gedruckte Forderung gefunden. Es war glücklicherweise nur eine Einzelstimme und die äußerte sich kurze Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Es sei nicht ausreichend, so damals ein orthodoxer Würdenträger, einen Zaren an die Spitze des neu zu bauenden Staates zu setzen. Es müsse zwingend ein russisch-orthodoxer Zar sein. Mir kam damals die Galle hoch. In einem Nebensatz zerfetzte derselbe Mann das Konzept der (westlichen) Demokratie. Die heutige russische Führung hat diesen Teil der Forderungen aus den 90er Jahren bereits perfekt erfüllt. An der orthodoxen Zarenwürde arbeitet Herr Putin noch. – Ich mache mir gerade Feinde, aber damit komme ich klar.

Gar nicht klar komme ich mit der Sehnsucht mancher Landsleute nach einem starken Mann an der Spitze. Eine Doppelspitze, wie gerade bei der afd am Werk, macht es nicht besser, sondern schlimmer. Wen der eine Part nicht anspricht, begeistert der andere. Hauptsache Anführer, jemand dem man vielleicht nicht hundertprozentig trauen, aber trotzdem folgen kann. Ich kann mich einfach nicht in die Gedankenwelt eines afd-Fans hinein versetzen, obwohl ich mit mindestens einem regelmäßig zu tun habe.

Bei den Gedanken von altmodisch Gläubigen habe ich weniger Probleme. Ich war nie ein Monarchist, auch und gerade nicht in der Kirche. Aber ich kenne mich mit den entsprechenden Traditionen etwas aus. Die Gottesmutter als Königin des Himmels – ein Bild, das zur mittelalterlichen Realität passte. Die Königin war für den Leibeigenen und freien Bauern unerreichbar, genau so für die meisten Stadtbewohner. Man bekam sie einfach nie zu Gesicht, Fotos gab es ja noch nicht. Aber von der heiligen Mutter Gottes gab es unzählige Bilder, die ließ sich täglich blicken. Die vollkommene Frau. Und zu dieser Königin des Himmels konnte jeder und jede ganz konkret rufen. Und auf Erhörung hoffen! Ich bin sehr oft tief angerührt von alten handgeschnitzten Marien-Figuren. Vor allem von diesen ausdrucksstarken Gesichtern.

Eine Marienfigur wollte ich dennoch nicht erwerben, als ich zum Kloster-Laden der Karmel-Schwestern in Berlin Charlottenburg fuhr. Ich suchte zwar etwas physisch Greifbares, aber keine Statue.
Vor allem suchte ich nicht in erster Linie nach einer Kirche. Dabei hätte mir natürlich klar sein dürfen, dass sich bei einem von Ordensschwestern betriebenen Laden auch ein Kloster und damit ein Gotteshaus befindet. Aber mein Augenmerk, mein Focus, lag eben auf etwas Anderem.
Als ich mein Ziel erreichte, nahm die Gedenkkirche Regina Martyrum meine Aufmerksamkeit augenblicklich vollkommen in Beschlag. Was für eine Anlage! Gleichzeit bedrückend, Ehrfurcht gebietend und von unergründlicher Tiefe, wenn man sich ersteinmal hinein getraut hatte. Über dem Eingang eine goldene Tafel, in der ich eine Menora, den jüdischen siebenarmigen Leuchter, zu erkennen glaubte. Im Inneren, in das es mich unwiderstehlich hineinzog, unten eine erschütternde Pietà (Maria mit ihrem toten Sohn Jesus in den Armen). Oben eine Kirche mit strengstmöglichen Linien und einem Altargemälde voller lebendiger Farben. Dass die Orgel gerade tönte, gab mir den Rest. Ich war gebügelt, konnte nur noch schweigen. Im nachhinein war der Eindruck fast so stark wie 1995 in der Jerusalemer Grabeskirche.

Spirituelle Orte werde ich nicht miteinander vergleichen, weder hier im Blog noch sonstwo. Aber bei meinen Erinnerungen erlaube ich mir die Gegenüberstellung ein Stück weit. Zumal die Namen von Kirchen unterschiedliche Vorzeichen setzen.
In Regina Martyrum – für Nicht-Lateiner: „Königin der Blutzeugen“ – kamen bei mir andere Saiten zum Klingen als etwa in St. Richard, wo ich öfters bin. Mit dem lateinischen Wort „regina“ verbinde ich besondere Empfindungen, Gedanken und Erinnerungen. Meine Oma väterlicherseits hieß so, ihr Mann, mein Opa, spielte ihr als Organist so manches heimliches Ständchen im Gottesdienst. Gleichzeitig galten diese Lieder natürlich der Himmelskönigin. Die war nicht eifersüchtig, glaube ich. 😉

Was mir bei meinem ersten Besuch in der Charlottenburger Klosterkirche aber viel stärker in Erinnerung bleiben wird: Die Mahnung, dass eine Quasi-Monarchie, die Alleinherrschaft einer einzigen Partei mit einem „starken Mann“ an der Spitze, ungezählte Menschenleben vernichten kann. Ich gehe weiter: Jede Alleinherrschaft wird früher oder später buchstäblich über Leichen gehen.
Wir Nachgeborene wissen, dass 6 Millionen Menschen ihres jüdischen Glaubens oder ihrer Herkunft wegen ausgelöscht wurden. Die Zahl der Opfer des von unseren Groß- und Urgroßeltern geführten Krieges liegt ebenfalls in einem Zahlenbereich, der den Menschenverstand übersteigt. Millionen über Millionen – hat irgendjemand einen konkreten Begriff, was „1.000.000” bedeutet? Und dann geht es auch noch um Menschenleben, um vernichtete. Das deutsche Verbrechen ist im wörtliche Sinne unermesslich. Jede einzelne Begegnung, die ich mit einem Menschen hatte, der Verwandte, Freunde oder Nachbarn durch Nazis oder deren Mitläufer verloren hat, behalte ich in Erinnerung. Und auch meine Empfindungen während des Gesprächs. Der Ausdruck „Scham“ alleine beschreibt diese Gefühlslage nicht.
Dieselbe emotionale Saite kam heute in Regina Martyrum zum Klingen. Und eine gedankliche Note stach heraus: Diese Regina, diese Königin des Himmels, war in den Augen ihrer Zeitgenossen, also vor rund 2.000 Jahren, eine ganz einfache Frau, buchstäblich eine Frau aus dem Volke. In einem Marienlied aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts kommt das zum Ausdruck: „Du Frau aus dem Volke / von Gott ausersehn“. Ihre Verwandten einschließlich ihres Sohnes dürften sie übrigens kaum Maria gerufen haben. So wenig wie Regina. Sie hieß Miriam. Den selben Namen trugen ungezählte jüdische Frauen und Mädchen, die von selbsternannten Gottesstreitern und deutschen „Übermenschen“ ermordet wurden. In all den Jahrhunderten, die ein gewisser afd-Doppelspitzen-Mann jüngst als „erfolgreich“ bezeichnete. Wie geht eine wahrhaftige Königin mit so jemand um? Der Mann könnte es ausprobieren. Es ist kein weiter Weg von Potsdam nach Charlottenburg…

1 Gedanke zu „Die Frau aus dem Volke

Schreibe einen Kommentar zu Marita Steinhoff Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert