Fische, Fleisch und gute Butter

Ich weiß, nicht vegan ist nicht sexy. Aber wann wäre ich je das eine oder das andere gewesen? Heute geht es darum, wie Altvordere Geschmack an neuer Selbstbeschränkung finden können. Hoffentlich.

Ich bin ein Kind der Siebziger. In jenem Jahrzehnt liegen jedenfalls die Jahre, die mich mutmaßlich am stärksten geprägt haben.
Nicht durch „sex and drugs and rock’n roll“. Alle drei waren mir als Kindergarten- und Schulkind herzlich egal. Aber in einer westfälischen Kleinstadt gab es damals andere soziale Phänomene, deren Wirkkraft nicht zu unterschätzen war.

Und dabei, haha, war nicht alles schlecht. Pazifismus, eine ebenso energische wie behutsame kirchliche Jugendseelsorge, Honorationen mit sicherem Gefühl für soziale Verantwortung – das und einiges mehr standen auf der hellen Seite.
Vieles von der Schattenseite wird heute zu Recht als verwerflich angesehen: Plastik an allen Ecken und Enden, Stammtische und deren Bewunderung für alte Haudegen, deren Vergangenheit man nur allzu gerne ausblendete, Konsum-Herrlichkeit. Und wer beim Essen auf Grünes aus dem eigenen Garten setzte, oh je, ein „Körnerfresser“. Die Grünen gründeten sich erst 1980.

Überhaupt das Thema „Umwelt“. Ja, es gab sie schon, die Lehrer, die ab 1980 der neugegründeten Partei „Die Grünen“ positiv gegenüberstanden und daraus keinen Hehl machten. Genau so wie ihre Gegner, überwiegend männliche Kollegen, die aus unterschiedlichen Gründen mit Konzepten wie „Antiautoritäre Erziehung“ und „Kommune“ auf Kriegsfuß standen. Und mit langhaarigen Linken sowieso.
Es waren ganz klare Kanten, die sich die weltanschaulichen Gegner offen zeigten. Dabei war aber manches für alle Konfliktparteien tabu. Zum Beispiel Schläge unter die Gürtellinie. Ich habe erlebt, wie etwa unser Latein-Lehrer, der gleichzeitig Bürgermeister und in der CDU aktiv war, über die Positionen von „den Grünen“ herzog. Im selben Atemzug würdigte er die betreffenden Kollegen als hochkompetente Leute, mit denen man zu diskutieren habe. Weder Fake News-Vorwürfe noch Shitstorm-Ansätze kamen in Betracht. Anstelle dieser Begriffe gab es damals (jedenfalls in unserer Kleinstadt) nur einen Ausdruck für derart unfaires Verhalten: Schlammschlacht. Und darauf ließ sich kein anständiger Diskutant ein, mochte er die Gegenseite im Inneren noch so sehr geringschätzen.

Gab es damals weniger Hass? Oder fand er nur kein Ventil?

Ich fürchte, letzteres war der Fall. Es gab sie ja, die im Wortsinn hässlichen Gesinnungsgruppen. Ich weiß noch, wie befremdet und fassungslos ich war, als ich von einem Freund erfuhr, dass er sich als Mitglied einer Wehrsportgruppe betätigte. Bis dahin hatte ich nicht einmal den Begriff gekannt.

Und vielleicht ist genau das der Schlüssel zum Begreifen des Fakts, dass früher im Kern nichts anders und so auch nicht besser war: Menschenverächter, Kriminelle und Hassprediger wirkten im Verborgenen. Die Missbrauchsfälle, die heute (und viel zu spät) kirchliche wie religiös neutrale Institutionen bis ins Fundament beben und teilweise bröckeln lassen, sind nur ein Beispiel dafür. Ein besonders entsetzliches.

Verglichen damit sind andere deutsche „Sünden“ der letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts lässlich. Oder doch nicht?

Nicht wenige meiner Freundinnen und Freunde haben radikal mit Altgewohntem gebrochen. Fleisch essen, Tiere züchten und schlachten (lassen), Nutztiere halten generell – all das geht für sie gar nicht. Bloß Vegetarier zu sein, ist viel zu wenig. Vegan leben ist die einzige verantwortbare Option. Sagen sie mir und mit Hilfe sozialer Medien der ganzen Welt.
Die Glaubwürdigeren von ihnen leben das Ideal auch, mit allen umsetzbaren Konsequenzen. Und sind so meiner Ansicht nach weiter als die meisten jüngeren Aktivistinnen und Aktivisten, die sich mit bewundernswerter Verve für Klimaschutz, echtes Tierwohl und Menschenrechte einsetzen. Es wäre zu viel erwartet, dass sich die ganze Masse der Jugendlichen auf eine gemeinsame Prioritäten-Liste verständigt. Ich bin d’accord, dass alle Themen, für die FFF-Aktive und Tierschützer auf die Straße gehen, drängend sind und ausgedehnte Schnittmengen haben. Trotzdem halte ich es für falsch, die Andersdenkenden als zu manipulierende Masse anzusehen. Auch die schönste Revolution frisst ihre Kinder, in irgendeiner Weise. Eine hässliche verputzt vorher die Andersdenkenden und das, historisch mehrfach belegt, brutal.

Mit Andersdenkenden habe ich Tag für Tag zu tun. Nein, sie, die Älteren, finden die Aktionen der Jugendlichen gar nicht schlecht. Selbst von bekennenden AfD-Sympathisanten unter meinen Schützlingen (leider nicht so wenige) habe ich noch nie etwas Abwertendes oder Feindseligkeit gegenüber Greta Thunberg und streikenden Schülern gehört. Kritik durchaus, aber die war im Dürresommer 2019 in einem Fall buchstäblich erfrischend konstruktiv:

„… Die jungen Leute haben ja ganz recht. Aber wie wäre es, wenn sie bei einem ihrer Züge den verdurstenden Bäumen Wasser gäben? Nicht nur protestieren, sondern auch etwas Gutes tun…“

Spontaner Gedanke von mir, als ich dieses Statement in Lankwitz hörte: Wie geil ist das denn? – Und das, wo das im Mittelhochdeutschen beheimatete g-Wort in meinem aktiven Wortschatz eigentlich nicht vorkommt.

Am Wässern von Berliner Alleebäumen werden Veganer nichts auszusetzen haben, im Gegenteil. Aber ich bin sicher, dass sie sonst keine Einigkeit mit der Urheberin der gerade zitierten Idee erzielen werden. Klimaschutz, so sagen viele und durchaus wohlbegründet, hat in erster Linie mit Verzicht zu tun. Verzicht auf vieles, was vor allem Älteren als besonders erstrebenswert erscheint. Zum Beispiel Reisen, ein im Winter gut beheiztes Zuhause, täglich Fleisch auf dem Tisch und „gute Butter“. Oder wie Jochen Malmsheimer so generationstreffend sagte: „GuteButter – ein Wort.“

Butter und Margarine, in meiner Kindheit bestimmte meine Mutter, was auf das Frühstücksbrot kam. Und weil mir das ölige Kunstprodukt nicht schmeckte, gab es jedenfalls meistens das goldgelbe Milcherzeugnis auf die Knifte, wie der Sauerländer sagt.
Dass Butter, Käse, Fleisch und Wurst von Tieren kam, war in unserer Familie nie ein Geheimnis und auch nicht abstrakt. Samstags fuhr mein Papa Fleisch für seinen Vater aus, einen in der ganzen Region hoch angesehenen Metzgermeister. Ich bin als Kind regelmäßig zwischen aufgehängten Schweinehälften flaniert und habe mich immer gefreut, wenn einer meiner Onkel mir eine frisch gebrühte Knackwurst zusteckte. Und dann waren da eines Tages auch die gut 100 Forellen, die von meinem Vater im Eilverfahren ausgenommen werden mussten. Ok, Vegi-Freunde, ich mache hier Schluss mit der kleinen Horror-Show. Euer Kopfkino läuft sowieso schon heiß. 😉

In den Neunzigern, als ich noch regelmäßig Talkrunden im Fernsehen folgte, trat einmal ein ehemaliger Landwirtschaftsminister auf und verteidigte die Massentierhaltung gegenüber ökologisch engagierten Diskutanten. Durch die Haltung (und Schlachtung) großer Viehbestände, so der nicht gerade gertenschlanke Ruheständler, sei „…wertvolles Fleisch zu einem täglichen Gut breitester Teile der Bevölkerung…“ geworden. Auf diese zivilisatorische Errungenschaft dürfe man nicht verzichten.
Obwohl ich damals von Veganismus noch nie etwas gehört hatte, und die Grünen-Vertreterin am Talktisch mutmaßlich nur wenig mehr als ich, verurteilte ich diese Einschätzung instinktiv. Im Rückblick kann ich das damalige Urteil argumentativ untermauern. Als Primal Guy gehe ich davon aus, dass das Fleisch von andauernd leidenden und mit Antibiotika vollgespritzten Tieren für niemand gut ist. Außer für die Bankguthaben der Fleischindustrie-Konzerne. Ich schreibe bewusst nicht „für Konzern-Chefs“. Ich habe da so meine Zweifel, ob dicke Konten für Menschen gut sind.

Und Luxus, der Fleisch einmal für die meisten hierzulande war, will auch wohl dosiert sein. Sonst setzt es Hüftgold. Oder Schlaganfall und Konsorten. Das eine führt oft zum anderen.
Weniger ist mehr – WIM. An dieses Motto versucht sich mein Vater seit einiger Zeit zu halten. Mein Papa, Zeit seines (heimlich weitergeführten) Berufslebens im Verkauf samt Marketing tätig, hat ein Händchen für knackige Abkürzungen. Wobei „WIM“ ein waschechtes Akronym ist, also eine Kurzform aus der Königsklasse. – Ich dagegen habe Probleme mit Kurzformen und Mini-Ausgaben. (Deshalb hat dieser Blog-Post bis hierher auch schon wieder über 1.100 Zeichen, grunz.) Früher galt das auch für Essens-Portionen. Tempi passati, ich habe mein von vorne herein für Details schlagendes Herz in den letzten Jahren mächtig trainiert. Das Training muss unablässig weitergehen, sonst droht eine ur-menschliche Eigenschaft zuzuschlagen: Die Liebe zur Bequemlichkeit.

Als ich noch in München wohnte und gleich gegenüber ein Wellenbad war, kam mich mein Vater manchmal besuchen, um im besagten Bad zu schwimmen. Er war selbst frischgebackener Rentner und war darauf bedacht, aktiv etwas für seinen Körper zu tun. Deswegen erzählte er immer mit anhaltendem Lachen von den Altersgenossen, die im Wellenbad vor allem die Düsen nutzten. Zur Rückenmassage. „Wer sich bewegt, hat verloren.” – So beschrieb mein Vater den Wettbewerb der Wassersenioren und meinte, irgendwann schreibe er ein Buch darüber.
Jetzt, knapp 10 Jahre später, möchte mein Vater wieder schriftstellerisch aktiv werden. Zum Schwimmen geht er derzeit nicht, dafür häufiger sonntags in die Messfeier der katholischen St. Marien-Gemeinde Lüneburg. Ich kenne diese vielfältig aktive Gemeinde und spiele dort von Zeit zu Zeit sehr gerne die Orgel.

Heute Morgen spielte ich das (erheblich kleinere) Instrument von St. Richard Berlin. Als ich meinen Aftershow-Kaffee trank, schrieb mir mein Vater folgendes:

Habe zum ersten Mal in meinem Christenleben den Altar benutzt, kostenlos Gemüse zu erwerben. Anbieter waren die lg-foodsaver. Es war deutlich zu sehen, wie schwer sich aeltere Menschen mit diesem Weg tun, obwohl die gleichen Menschen morgen wieder auf Sonderangebote achten. Ein weiter Umweltweg liegt noch vor uns. Uns jedenfalls werden Kohlrabi und Möhren schmecken.

Wie lässt sich Senioren von heute Rückbesinnung auf alte Gewohnheiten schmackhaft machen?

Ich glaube, es gibt einen Weg. Und den sehe ich manchenorts bereits in der Umsetzung! Nämlich da, wo junge Aktivistinnen und Aktivisten die Generation ihrer Großeltern zu Rate ziehen. Und so mit in’s Boot bekommen. Denn ich möchte den Opa oder die Oma sehen, die Enkelkindern die kalte Schulter zeigt, wenn die sich für Hausmittel interessieren. Wie macht man Kombucha? In Russland weiß das jede Hausfrau und in Deutschland wussten es einmal viele. Wie setzt man Essig an? Was ist eigentlich Topinambur? –

FFFs, eure Eltern sind verkorkst, keine Frage. So waren die Siebziger und Achtziger, die Zeit, in der wir groß geworden sind.
Aber eure Großeltern wissen, wie es geht, mit weniger zurecht zu kommen und trotzdem zufrieden zu sein. (Und sie wissen auch, wo Elend anfängt, aber das ist erstmal nicht das Thema.) Traut euch zu fragen. Und gießt bei der nächsten FFF-Demo die Bäume, die finden das auch im Herbst geil. 😀

2 Gedanken zu „Fische, Fleisch und gute Butter

Schreibe einen Kommentar zu marita steinhoff Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert