Angewiesen sein

Kein gesunder erwachsener Mensch ist es gerne, aber wir sind es: angewiesen. Ist das schlimm?

Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich in den 90ern auf dem Regensburger Campus mit Anton führte. Unsere Studiengänge hatten sich getrennt, aber wir musizierten zusammen und hatte außerdem die Freiheiten, die ein Universitätsstudium damals noch mit sich brachte. Es war kein Problem, über den Tellerrand der eigenen Fächerwahl hinaus zu blicken, weder die Dozierenden hinderten uns, noch die eigenen Zeitpläne.

Deswegen schlug ich Anton guten Gewissens vor, doch einmal bei meinem Lieblings-Prof Ferdinand Ulrich vorbeizugucken. Was ich von diesem Lehrer mitbekam, prägt mich bis heute.
Meine Begeisterung, die sowohl Prof. Ulrichs Lehre als auch seine Person betraf, war mir mit Sicherheit anzumerken. Und genau das störte meinen Musiker-Freund. „Du bist da in einer Abhängigkeit, Thorsten. Du solltest doch jetzt keine Lehrer mehr brauchen und niemandem mehr folgen. Das ist nicht erwachsen.“ – So sagte Anton es sinngemäß.

Ich kam für einen Moment ins Grübeln. Folgte ich meinem Lehrer wirklich so, dass ich den eigenen Kopf abgab? Und falls ja, wer konnte ein Interesse daran haben?

Heute weiß ich, dass ich damals schnell zur richtigen Antwort fand: Nein, mein Kopf gehörte mir und von Manipulation konnte keine Rede sein.
Später traf ich vor einer Prüfungsvorbesprechung in der Germanistik eine Kommilitonin, die ich aus dem Philosophie-Seminar von Prof. Ulrich kannte. Ich hatte sie sehr lange nicht gesehen, auch nicht bei unserem gemeinsamen Lehrer und fragte sie deshalb nach dem Warum ihrer Abwesenheit. Sie antwortete:
„Ich war bei Herrn Ulrich in einer Einzelsprechstunde. Mir ging es nicht gut und das spürte er. Und dann sagte er mir auf den Kopf zu, was mich beschäftigte. Er war vollkommen wohlwollend, gab mir gute Ratschläge. Aber mir war das unheimlich. Da ist ein Mensch, der mich vollkommen durchschaut. Wenn der mich manipulieren wollte… Ich möchte niemanden in meiner Nähe, der so mächtig ist. Deswegen komme ich nicht mehr.“

In der Tat gehört auch in meiner Erinnerung Ferdinand Ulrich zu den zwei Menschen, von denen ich weiß, dass sie mich durch und durch kannten, besser als ich mich selbst kenne. – Der andere Menschenkenner war mit Prof. Ulrich befreundet und begleitete meinen eigenen Lebensweg als bester Freund über mehr als ein Vierteljahrhundert: Richard Loftus SJ.

Von Jesuiten weiß man, dass wenigstens ihr Ordensgründer Manipulation nicht so ganz in Bausch und Bogen ablehnt. Aber beide Regensburger Lehrer hatte ich nie im Verdacht, dass sie mich ohne mein Wissen lenkten.
Gelenkt haben sie mich, aber so, dass ich es merkte. Und ich konnte selbst entscheiden, ob ich die Wegweisung annahm oder nicht.

Ich war schon nach Trier gewechselt, als ich Prof. Ulrich in seinem Sprechzimmer besuchte. Ich bemühte mich um Antwort auf die Frage, ob ich Ordensmann werden solle. Spiritualität und Lebensweise der Dominikaner hatte es mir sehr angetan.
Ferdinand Ulrich sah mich lächelnd an, schüttelte leicht den Kopf und gab mir ein differenziertes Nein. Ein Leben im Predigerorden sei für mich nicht falsch, aber es gehe noch besser. Meine ganze Art weise in Richtung Benediktiner-Orden. Aber auch diese Entscheidung sei noch nicht fällig, mir fehle noch eine Reifezeit mit bestimmten Erfahrungen. Die Erfahrungen beschrieb er anschließend. Sie sind bis heute noch nicht eingetreten. Das Kloster muss also warten. 😉

In diesen Tagen denke ich oft an das, was ich von meinen beiden Regensburger Lehrern auf den Weg mitbekommen habe. Ist es nicht langsam an der Zeit, manches davon jetzt selbst weiter zu geben? Oder mache ich das schon und merke es nur nicht?

Meine „Schüler“ sind ausnahmslos älter als ich, Lebenserfahrung kann ich ihnen also nicht schenken. Manipulieren werde ich sie ebenfalls nicht können, geschweige denn, dass ich das wollte. – Und trotzdem verbindet sie etwas mit mir, was Anton damals nicht gefallen hätte: Sie sind in gewisser Weise auf mich angewiesen.

Deshalb halte ich aus, in einer Anstellung, in der nicht einmal die Fortdauer gesichert ist. Und weil es jetzt sogar nach einem baldigen Ende aussieht, habe ich meinen mir ans Herz Gewachsenen, ja Freunden, längst ein Versprechen gegeben: Auf mich könnt Ihr immer zählen.

Da ist sie, die andere Seite des Angewiesenseins. Es ist Verpflichtung. Man darf auch Verantwortung dazu sagen. Und das ist etwas, was zum Erwachsensein mehr gehört, als die Entscheidungsfreiheit. Angewiesen sind wir fast immer. Auf etwas oder jemanden. Weise dürfte sein, wer sich über sein Zwischen-Sein (Inter-Esse) beständig im klaren ist.

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