Lass dich niemals hängen

Auch nicht von anderen Menschen. Ein Plädoyer für den aufrichtigen Fastengang.

Wenn man mich zur Weißglut treiben will, muss man mich mit Grammatik-Fehlern bombardieren. Etwa mit einer falschen Vergangenheitsform des Verbs „hängen“. Wem das zu mühsam ist, kann mich auch einfach hungern lassen.
Ich erinnere mich an Autofahrten, die wir als vierköpfige Familie absolvierten und bei denen die Mägen der Reihe nach mit dem Knurren anfingen. Dann wusste jeder im Wagen, dass wir schnellstmöglich die Straße verlassen und ein Lokal ansteuern mussten. Sonst gab es Kniest, aber richtig feste.

Mein Vater stammt aus einer westfälischen Metzger-Dynastie. Okay, er ist aus der Art geschlagen und zwei seiner Brüder ebenfalls. Aber wenigstens sind alle Steinhoff-Kinder, die in den 40er- und 50er-Jahren geboren wurden, zwischen Schweinehälften aufgewachsen. Was auf mich nur in Kinder-Teilzeit zutrifft, Samstag war für mich als Siebenjährigen Schweinehälften-Tag.
Meine Oma väterlicherseits war sehr fromm. Fleischverzicht am Aschermittwoch und an den drei Tagen vor Ostern war also selbstverständlich. Auch wenn das für sie und die Theken-Hilfen der Metzgerei nicht immer so einfach gewesen sein dürfte. Die Wurst ständig vor Augen, schlemm…

Als Kind bekam ich von der großelterlichen Fastenzeit-Askese aber gar nichts mit. Denn meine Oma war nicht nur fromm, sondern auch schlau. „Vom Fasten ausgenommen sind Kranke und Reisende“ sagte sie gerne und oft. Dann grinste sie, denn mit etwas gutem Willen konnte man meinen Bruder und mich immer als Reisende betrachten. Zwischen unserem Wohnort und dem unserer Großeltern lagen immerhin rund… äh, dreizehn Kilometer. *verschämtguck*


Eine Weltreise also. Jedenfalls für einen Jungen auf der Hintersitzbank. Neben sich einen damals gelegentlich noch extrem nervigen kleinen Bruder. Und besonders schlimm wurde es, wenn wir Hunger hatten. Siehe oben.
Zugegebenermaßen fuhren wir nie hungrig zu unseren Großeltern. Außerhalb der Fastenzeit gab es dort zwar immer Festessen, zu denen man aber nur Appetit mitbringen musste, keinen „Schmacht“, wie der Sauerländer sagt.

Solange meine Oma lebte, arbeitete sie mit im Betrieb, den bereits Jahre vor dem Tod ihres Mannes, meines Orgel spielenden Opas, der älteste Sohn übernommen hatte.
Ich bin meinen Eltern von Grund auf dankbar, dass sie meinen Bruder und mich nicht in einem Geschäftshaushalt aufwachsen ließen. Sie hatten – und haben! – Zeit für uns, wann immer wir sie brauchen. Im Elternhaus meines Vaters sah das anders aus. Das Geschäft ging vor. Immer. Noch weiter vorne rangierte nur die Kirche. Also das, was der Pfarrer sagte. Mein Vater erzählt bis heute herrliche Geschichten zum Thema Jugendfreigabe von Kino-Filmen. Die Kurzfassung: Leibes-Kurven schöner Römerinnen waren pfui, Wagenrenn-Kurven oller Römer hui. Gerne durften die Herren dabei auch ordentlich mit dem Schwert austeilen. Schließlich kam man aus einer Metzgerei, harrr… Ok, Ironie-Modus aus. 😉

Na klar, am Ende der vorösterlichen Bußzeit bringt die Kirche Evangelientexte zum Vortrag, die nichts für Zartbesaitete sind. Ein katholischer Geistlicher brachte das in der Münchener St. Thomas-Gemeinde mal hervorragend auf den Punkt, aber dazu mehr zur passenden Zeit.
Noch stehen wir am Anfang der sogenannten Fastenzeit, die in der westlichen Kirche 40 Tage dauert und die auch dieses Jahr wieder mit dem Mittwoch nach Karneval / Fasching / Fass(e)nacht / … begonnen hat. Wobei diese Ordnung zeitlich hinkommt, aber die kausale Reihenfolge umkehrt. Das närrische Treiben ist der Vorabend der Fastenzeit. Es noch einmal richtig, aber wirklich richtig, krachen lassen, bevor für sechseinhalb Wochen der gute Stoff weg kommt. Alles, was Spaß macht. So weit die Tradition 1.0.

Kurz bevor ich meine Schulzeit abschloss, besuchte ich zum ersten Mal meinen kirchenmusikalischen Dienstherrn ohne mir Lied-Nummern abholen zu wollen. Ich ging zur Beichte und wir waren in der Heiligen Woche, die auch Karwoche genannt wird. „Kar“ ist eine alte Form des Worts „Kummer“, nur für die Nicht-Germanisten in meinem Blog-Publikum.
Ich erinnere mich nicht genau, was ich beichtete, aber es hatte an einer Stelle irgendwas mit einem verpatzten Fasten zu tun. Mein Beichtvater, der selig entschlafene Pfarrer Egerer (mit Hochwürden, abgekürzt H.H., haben ihn noch viele tituliert), nickte und gab einen Scherz zum besten, der auch als Osterwitz durchgegangen wäre.

Von einem Eremiten, erzählte er, heiße es, dass er während der Fastenzeit eine duftende geräucherte Wurst an die Decke seiner Klause hängte, um sich seiner Willenskraft zu versichern und sie zu stärken. Eines Tages habe der Eremit sich nicht mehr halten können und die Wurst in kürzester Zeit mit größtem Genuss verschlungen. – Um später festzustellen, dass das genau am Karfreitag stattgefunden hatte.
Fazit von H.H. Egerer: „Die Kirche hat sich irgendwann davon verabschiedet, das Speisenfasten hoch zu halten. Vielleicht ist das zu bedauern, vielleicht aber auch einfach nur realistisch.“ Pfr. Egerer war theologisch durch und durch ein Konservativer, als Seelsorger aber ein Mann des Fortschritts. Soll heißen: Für ihn war wichtig und richtig, was den Anderen weiter brachte.

Gleichzeitig war er selbst kulinarischen Genüssen keineswegs abgeneigt. Das hätte im oberbayerischen Dorfleben auch nichts gefruchtet, wäre der Pfarrer ein Entsager gewesen. Trotzdem gehe ich davon aus, dass die Pfarrhausküche streng traditionell ausgerichtet war, ohne Rauchwurst am Karfreitag.

Und ich? Wie halte ich als #primal guy es mit dem Fasten?
Seit einigen Jahren übe ich eine etwas unorthodoxe Praxis, wobei sie durch eine orthodoxe Praxis inspiriert ist, durch das russisch-orthodoxe Fasten, um genau zu sein.

Die russische Orthodoxie fastet eine Woche länger als die Westkirche, wobei die erste Woche eine Vorbereitungszeit ist. Auch im weiteren Verlauf kennt das russisch-orthodoxe Fasten mehrere Phasen. Was allen Phasen gemein ist: Ihr Herzstück ist das durchgehende Gebet. Eine Gläubige erklärte mir einmal, dass es unter anderem darum gehe, den notwendigerweise auftretenden inneren Unfrieden durch das Gebet zu besiegen. Ich verstand sie damals sehr gut, indem ich an die eingangs erwähnten hungrigen Familienfahrgemeinschaften dachte. Wenn der Magen knurrt, liegen die Nerven schnell blank. Und dann hilft nur noch Beten.
Dass gelingendes Fasten eine mentale Übung mit (mindestens) zwei Zielen ist, kommt nach meinem Verständnis im Evangelium nach Matthäus (Mt 6, 16–18) mit größter Klarheit zum Ausdruck:

16 Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinsehen wie die Heuchler; denn sie verstellen ihr Gesicht, um sich vor den Leuten zu zeigen mit ihrem Fasten. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. 17 Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, 18 damit du dich nicht vor den Leuten zeigst mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.

Ich salbe meine Haare nicht, das sähe bescheuert aus. Aber „sauer dreinsehen“ geht dafür bei mir grundsätzlich nicht. Es könnte höchstens passieren, dass ich Fröhlichkeit vortäusche. Dann aber, so hoffe ich, ist es einfach eine wirksame Maßnahme gegen inneren Gram. Der lässt sich ja nicht immer verhindern, shit happens.
Es ist bekannt, dass sogar ein erzwungenes Lächeln bestimmte Blutgefäße, Nerven und Gesichtsmuskeln beeinflusst, die automatisch – Danke, Natur bzw. Schöpfer! – good vibes befördern. Die sind ja fast immer da, man muss sie nur aufspüren.

Und wenn sie eben nicht da sind? Versprochen, dazu schreibe ich in einem späteren Post was. Uff, noch ein Vorsatz für die Blogger-Fastenzeit. Jetzt aber erst einmal zurück zum heutigen ersten Sonntag der… hm, Fastenzeit?
Na gut, aber dann im Sinne des oben zitierten Herrn. Verzicht ist okay – solange die Mundwinkel oben bleiben. Lächle, Gott liebt Dich. <3

2 Gedanken zu „Lass dich niemals hängen

  1. Schwere Fastenspeise, die aber bei vielen Steinhoffs durch die Liebe zu Eierspeisen erleichtert wird. Doch das Fasten hat wieder Zukunft, auch wenn oft anders ausgedrückt wird. Klimafasten, jomo, reduziert leben usw. – konsequentes Entsagen bleibt also modern und schwierig.

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