Keine Kunst

Sollte ich es nicht besser bleiben lassen, das Musizieren? Eine kleine Reflexion.

Vieles spricht dafür, sogar pandemie-unabhängig. Was nicht heißt, dass meine Selbstzweifel in Sachen Musikmachen so gar nichts mit Corona zu tun hätten.
Ohne die Einschränkungen wäre mein kritischer Geist nicht so bald auf seinen „Chef“ losgegangen. Wie viel Freude hatte ich doch einfach daran, an wunderbaren Instrumenten spielen zu dürfen. Oft gekrönt dadurch, dass sich zumindest selten jemand beschwerte, manche sich sogar ausdrücklich erfreut zeigten. Bei Wettbewerben, gleich welcher Ausrichtung, habe ich mich noch nie zu Hause gefühlt. Als praktizierender Kirchenmusiker wusste ich immer: Es gibt Dutzende von Menschen, die das viel, viel, viel besser machen als ich. Ich war, bin und bleibe Amateur, also ein Liebhaber. Wenn ich Orgeln als Freundinnen bezeichnete (und damit meine liebe K. in O. zur Weißglut brachte 😉 ), war das nur zur Hälfte im Scherz gesagt.

Ein Scherz, bei dem mir das Lachen zunehmend vergeht. Im Laufe der letzten Tage erfuhr ich, dass ich an meiner zweiten Berliner Lieblingsorgel vielleicht nie wieder spielen werde.

Der Grund ist fast der gleiche wie bei der ersten: Hier kommen nur noch Profis zum Zug. So deute ich jedenfalls diverse Zeichen und Ansagen. Und dann traf ich mich auch noch privat (im Freien, Freunde, ganz legal und corona-verantwortlich) mit einem Musik-Profi, einem echten. Einem international anerkannten Meister-Musiker.
Nicht dass der mich je runtergeputzt hätte, das ist nicht seine Art. Aber ich muss nur ein paar von ihm gespielte Takte hören und weiß – eigentlich ist mein Tastenspiel eine Zumutung. Kunst ist das nicht, war es nie und wird es niemals werden.

Klingt das deprimiert? Vielleicht, ist es aber nicht. Ich spiele trotzdem! Heute Morgen zum Beispiel habe ich es wieder getan und gestern Abend auch. Beide Male hatte ich keine Skrupel. Obwohl beide Gemeinden gut hören können und es mir fernliegt, sie zu quälen.
Und trotzdem sind da diese Zweifel. Ich weiß aus langjähriger Erfahrung mit mir selbst, wie leicht ich mich verdrängen lasse. Kommt jemand, der sich einfach gut verkauft, dabei auch mehr zu bieten hat und bei dem ich nur an Motiven zweifle, bin ich ganz schnell raus. Und während die Pandemie wirklichen Künstlern, die von Berufs wegen im ständigen Wettbewerb stehen, etwas wegnehmen? Das geht gar nicht.

So finde ich es vollkommen in Ordnung, wenn Kirchengemeinden lieber Profis unterstützen, indem sie Freizeit-Musiker wie mich beiseitelegen. Sozusagen in die kirchenmusikalische Vorratskammer. (Blöd, dass ich daran zweifle, dass diese Vorratskammer nochmal geöffnet werden muss, aber das ist ein anderes und längeres Thema.)
Ich erinnere mich sehr gut an meinen ersten Besuch in einer Berliner Kirche, nachdem ich beschlossen hatte, alles daran zu setzen, in meine Traumstadt zu ziehen. Es war kein Gottesdienst, der Kirchenmusiker unterhielt sich gerade mit einem Küster über Kandidaten für einen Vertretungs-Posten. Ich wohnte noch nicht in Berlin, wusste nicht einmal, ob es mit dem Umzug in absehbarer Zeit klappte und kam aus weiteren Gründen nicht als Organist in Frage. Ich war glücklich als Chor-Mitglied und es stand fest, dass ich nach einem glücklich vollzogenen Tapetenwechsel auf dieser Schiene weiterfahren würde. Bitte ohne Vorsingen, denn das wäre ja Wettbewerb gewesen, den ich mehr scheue als der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser.

Es sollte Jahre dauern, bis ich wieder an einer Orgel saß. Es war ein mühsamer Weg. Aber die Mühe lohnte sich. Und dann flogen mir die Orgelherzen zu. Neun davon. Thorsten in love.

Nun denn, meine Liebsten wurden mir entrissen, eine nach der anderen. Nicht wie menschliche Lieben, versteht sich. Orgeln mögen einen individuellen Charakter haben (bin ich fest von überzeugt), einen eigenen Willen haben sie nicht. Ja oder Nein sagen, das ist Menschen-Gabe.
Aber Liebe ist das Stichwort. Warum mache ich weiter Musik? Obwohl immer mehr Gelegenheiten wegfallen, bei denen ich nicht nur für mich spiele? Obwohl es kaum jemanden gibt, dem diese Klänge wirklich etwas geben? Kunst ist es nicht, credo.

Dafür eine Sprache. Die ich nicht perfekt beherrsche, in der ich deftige Fehler mache und um genau die zu vermeiden, mich nur wenig traue.
Als ich – in grauer Vorzeit – in eine junge Frau verliebt war, machte ich mir keine Gedanken, wenn ich sie in ihrer Muttersprache ansprach. Ich wusste, dass ich Fehler machte, aber das war egal.
Diese Frau, für die ich nie zu musizieren die Möglichkeit hatte, hielt mir diese Fehler nie vor, war immer konstruktiv. Dafür bin ich ihr bis heute und vermutlich bis in die Ewigkeit dankbar. Es gab da mal eine Vokabel-Lektion in Sachen internationaler Seefahrt, über die ich mich nach wie vor kringelig lachen könnte. 🙂

Wenn ich heute musiziere, mache ich das nicht, weil ich es für Kunst hielte. Es ist Gespräch, idealerweise Zwiesprache. Nein, nicht mit der Orgel, die hört ja nix. Dafür, jedenfalls vor der Pandemie, mit der singenden Gemeinde. Dass die Gläubigen wieder mitsingen dürfen, somit wieder in einen Dialog eintreten, darauf warte ich mit ständig wachsender Sehnsucht, so wie auf die nächste Chorprobe. Da wird diese Fremdsprache auch gepflegt, intensiv und als Konversationskurs.

Bis dahin mag meiner Musiksprache zuhören, wer mit meiner Person etwas anfangen kann – und sich nicht an einem mal mehr oder weniger heftigen Sprachfehler stört. Wie sagte mein Schwarm damals zu mir auf dem Primorskij Boulevard? „Malo slov. No i malo oschibok.“ Nu, sluschaj, dorogaja.

Passio. Klavier-Improvisation zum Palmsonntag 2021.

2 Gedanken zu „Keine Kunst

    1. Das steht am Anfang der Liturgie. Wenig später kommt aber die Passion, die dann den weiteren Charakter des Gottesdienstes prägt. In St. Richard gestern bis zum stillen Auszug, auf den die Leitung großen Wert legte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert