Wie uns die Alten sungen

Nanu, schon wieder Weihnachten? Nö, Pfingsten. Ein Plädoyer für mehr Begeisterung.

Ich bin weit davon entfernt, die Pandemie zu leugnen. Für mich persönlich hat sich zwar sehr vieles geändert und ich weiß nicht, was vom Altgewohnten noch Zukunft hat. Ich will nicht einmal alles zurück haben. Aber eines ganz sicher: Gemeindegesang.

Als Kirchenmusiker bin ich in einer bevorzugten Situation: Ich darf regelmäßig im Gottesdienst singen. Ja, ich soll es sogar! (Als Fan des Mittelhochdeutschen kenne ich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, das heute „dürfen“ ausgesprochen wird; mittelhochdeutsch „darfen“ bedeutet „müssen“. So weit die festtägliche Germanistik-Lektion. 😉 )
Ich weiß von Kolleg*innen, dass sie sich durch dieses Privileg, dieses Vorrecht, herausgefordert fühlen. „…Vor der Pandemie war alles klar. Einzug, Kyrie, Gloria – bis hierhin singt die Gemeinde. Psalmodie und Halleluja sind mein Part, dann weiter Orgel als Begleitung. …“

Genau so kenne ich das auch, aus jahrzehntelanger Praxis. Und plötzlich müssen wir, die Tasten- und Pedal-Aktiven, fast alles alleine singen.

Trotzdem bleibe ich dabei: Wir genießen ein ungeheures Vorrecht! Im Gottesdienst durchgängig Maulkorb tragen zu müssen und gleichzeitig streng genommen nur mit schlechtem Gewissen summen zu dürfen…
Also, ich hatte seit Mitte März 2020 keine Lust mehr auf das sonst mit Leidenschaft gepflegte Katholisch Fremdgehen. So sich entsprechende Gelegenheiten, also öffentliche Gottesdienste, denn überhaupt boten.

Seit der Advent- und Weihnachtszeit, in der die Gemeinden nach einem sommerlichen Ansingen wieder zum Schweigen verurteilt wurden, hat sich viel getan. Auch bei den Kampagnen, über die man gerne streiten darf. Nicht jeder muss sich über eine Impfung so freuen, wie ich das getan habe. Off records bekam ich Reaktionen auf meinen Blog-Post „300“, die mich befremdeten, die ich aber auch da akzeptiere, wo ich sie nicht nachvollziehen kann.

Aus den Gemeinden, mit denen ich als Kirchenmusiker regelmäßig Gottesdienst feier, habe ich noch keine Fundamental-Kritik am Impfen gehört – an der Senats-, Bundes- und Kirchenpolitik schon.
Kritik bedeutet Hinterfragen. Zufällig ist das ein Wesenszug von mir, ich hinterfrage alles. Deswegen finde ich auch, dass Kritik alles darf, genau so wie Satire. Kritik und Satire dürfen aus meiner Sicht sogar ordentlich weh tun. Guten Ärzt*innen erlaube ich das ja auch, wenn es nicht anders geht. Diverse Kunstfehler, die medizinisch nicht qualifizierte Herzchirurginnen bei mir angerichtet haben, nehme ich mit auf die Liste der unvermeidlichen Narben. Nebelkerzenmodus aus.

Meine Probleme fangen da an, wo schmerzhafte Operationen mit etwas Einfühlungsvermögen vermeidbar wären. Mir bricht es jeden Samstagabend das Herz, wenn ich von der Orgelbühne in St. Anna Berlin Baumschulenweg auf die Bänke im Kirchenschiff blicke.
Da sehe ich lauter weißhaarige oder altersbedingt kopfhaarlose Gemeindeglieder, die hier in dieser Kirche einem erklärt religionsfeindlichen Regime die Glaubensmeinung geigten. Beziehungsweise sangen, lauthals. Was die SED über Jahrzehnte nicht schaffte, schaffte die Pandemie mit wenigen Tagen Anlauf und auf inzwischen mehrmonatige Dauer: Es brachte die Menschen zum Schweigen. Genau genommen war es die kirchliche Obrigkeit. Und die wusste ursprünglich gute Gründe vorzubringen. Etwa diesen Grund hier: Christenmenschen nehmen Rücksicht, aufeinander und auf alle, mit denen sie im nicht kirchlichen Alltag zu tun haben.

Längst nicht alle Glaubensgeschwister teilten in den vergangenen Monaten meine Meinung, dass eine Viren-Pandemie bestimmte schmerzhafte Einschränkungen mindestens rechtfertigt, wo nicht gebietet. Ich darf behaupten, dass ich mich nach Kräften daran gehalten, aber auch immer wieder klammheimlich nach Grauzonen gesucht habe. Masken? Pfui spinne. Ach, jetzt muss es sogar FFP 2 sein? Iiiieeeh. Und, ach du Schreck, jetzt faselt jemand, das sei immer noch nicht sicher genug, es bräuchte jetzt FFP 3? Okay, wo ist das nächste Mars-Shuttle?
Bevor ich ernsthaft danach forschen musste – ej, Tesla-Man, haste mal `nen Freiflug ab Brandenburg? – kamen die Impf-Prios. Wäre es streng nach denen gegangen, hätte ich mit dem eigenen Nadelstich bis St. Nimmerlein gewartet. Ohne Groll, denn für mich galt: Hauptsache, meine Schützlinge, die älter oder kränklicher sind als ich, werden geschützt.
Das riecht ziemlich nach Show-Altruismus, ist aber keiner. Ich bin gerne gesund und lebe gerne. Eines habe ich aber durch die Pandemie gelernt: Das isolierte Leben, das ich viele Jahre lang geführt habe, kann nur auf eine Weise geheilt werden. Durch intensiveren Austausch mit anderen Menschen, die mir nicht nur beruflich verbunden sind. Wenn der große allgemeine Maskenball endlich vorbei ist, wird viel Beziehungs-Arbeit vor mir liegen. Und ich kann nur hoffen, dass die Anderen auch mitspielen. Aber solange persönliche Treffen, zumal mit „neuen Gesichtern“, als gefährlich gelten und auch der leichteste Körperkontakt als Ausbund von rücksichtsloser Fahrlässigkeit betrachtet wird – da wird sich überhaupt nichts zum Guten ändern, nichts heilen können.

Nach gut zehn Jahren konzentrierter Einsamkeit begann ich vormals eine nicht ärztlich betreute soziale Therapie. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich mich anfangs gegen diese Kurs sträubte.
Nach einem Gottesdienst in einer Münchener Kirche drehte sich ein älterer Herr zu mir um. „Junger Mann, haben Sie nicht Lust, bei uns im Chor zu singen?“

Wie gesagt, ich sträubte mich. Das war nicht meine Gemeinde, nicht mein Umfeld. Und Gemeinschaft? Bäh.
Es brauchte ein bisschen Dampf. Den mir mein späterer Freund W. prompt machte. Und nach einer knappen halben Stunde hatte er Erfolg. Matchball!

Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich viele Jahre vorher heftige negative Erfahrungen mit Gruppendynamik in musikalischen Verbänden gemacht hatte. Seit jener Choraktivität, die dann zwei Wochen nach meinem Umzug in Berlin Neukölln nahezu nahtlos fortgesetzt wurde, gab es aber nur positive Erlebnisse. Ermutigend und belebend. Welches Glück es bedeutet, in einer singenden Gemeinde nicht an sich halten zu müssen, der Begeisterung lauthals und ungebremst Ausdruck verleihen zu dürfen! Im Chor geht das nicht und auch nicht in jedem Gottesdienst, da geht es auch um Disziplin. Aber zu Pfingsten, da dürfen die Stimmbänder hinterher weh tun. 😀

Heute ist Pfingsten, am Vorabend feierten wir den Festgottesdienst in St. Anna.
Wer sang? Nur ich.

Manche mögen gesummt haben, verbotenerweise. Und wieder fragte ich mich: Warum fragt man die Handvoll Gemeindemitglieder nicht, wer von ihnen bereits vollständig geimpft ist und die Sicherheitsfrist (14 Tage nach der abschließenden Injektion) hinter sich gebracht hat? Und wenn das, wie ich annehme, alle sind – warum, verdammt noch mal, lässt man die Betreffenden nicht singen? Am Hochfest der Geist-Sendung?

Indem ich es schreibe, werde ich stinksauer.

Ob das im Sinne des Geistes ist, dessen Wirken wir heute feiern? Gibt es einen heiligen Zorn? Was denkt Ihr? Bei Lautwert habt Ihr ein Stimmrecht. Nutzt es gerne, ich höre.
Kirchenlied-Plan auf zweckentfremdetem Stimmzettel mit der Beschriftung „ohne Stimmrecht“

1 Gedanke zu „Wie uns die Alten sungen

  1. Ein besonders gelungener Artikel mit Tönen, die im verborgenen
    zu hören sind, hinter einer Maske. Ich verstehe die Kirche nicht, von der man in den Leitmedien seit Monaten nichts hört. Sinnvolle Vorschläge fehlen vollkommen. Aktuelle Märtyrer stelle ich mir anders vor.

    Es grüßt ein Mitglied des nachlassenden „Maskenballs“.

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